Vom Leben in der Gegenwart und dem Traum vom Glück: Marie Dumoras Langzeitbeobachtung "Belinda".

Foto: Viennale

Belinda war neun, als Marie Dumora sie in Avec ou sans toi (2001) zum ersten Mal mit der Kamera begleitete. Mit ihrer Schwester Sabrina war Belinda kurz zuvor in die Obhut der elsässischen Fürsorge genommen worden: Der Vater war in Haft, die Mutter in einer psychischen Krise. Belinda erzählt von dem, was in den 16 Jahren danach geschah, vom Ringen einer jungen, auch delinquenten Frau um Beziehungen und um Kontrolle über ihr Leben. Dumoras Film entdeckt irrwitzige, chaplineske Verbrechen, unzerstörbare Familienbande – aber auch Verfolgung und Trauma, die in der Minderheit der Jenischen über Generationen weiter wirken.

STANDARD: "Belinda" ist Teil einer Filmserie, die Sie im Osten Frankreichs gedreht haben. Wo beginnt diese Geschichte?

Dumora: Ich habe bei einem meiner ersten Filme die beiden Schwestern, Belinda und Sabrina, kennengelernt, als sie noch Kinder waren. Seitdem habe ich alle meine Arbeiten in dieser Region realisiert, ein Film hat mich zum nächsten geführt. Ich hatte davor einen Film (Tu n'es pas un ange, Anm.) über eine Behörde gedreht, die Menschen, die bei der Geburt verlassen wurden, dabei unterstützt, etwas über ihren Ursprung zu erfahren. Nachdem ich in den staatlichen Kinderheimen recherchiert hatte, wollte ich die Kinder selbst zeigen, nicht die Arbeit der Erzieher und Betreuer. Ich wollte die Zuschauer einladen, sich mit ihnen zu identifizieren. Kinder sind immer unschuldig. Jeder kann sie mit Zuneigung und Mitgefühl betrachten. Aber wenn sie Jugendliche werden, wird es schwieriger.

STANDARD: Aus den Kindern werden erwachsene Frauen, die nicht mehr ganz so gefällig sind.

Dumora: Es fällt einem leicht, mit Kindern im Kino eine Beziehung herzustellen. Doch dann wenden sich manche Zuschauer ab. Sie sind enttäuscht, dass die beiden nicht so hübsch und so gewinnend bleiben. Es gibt auch bei der Filmkritik immer wieder ein Unbehagen, das zu sehen. Wenn es in einem anderen Land wäre, würden Franzosen es mit Interesse betrachten, aber im eigenen Land erscheint es dann schnell als zu politisch. Als ob man diese Menschen nicht in ihrer Realität zeigen sollte. Die Reaktionen sind wirklich stark.

STANDARD: Ihre Figuren erleben ihr Leben sehr intensiv. Immer wieder stehen Familienfantasien im Mittelpunkt, die Partnerbeziehungen, das Konzept der großen Liebe, an dem auch Belinda festhält.

Dumora: Ja, manchmal sprechen sie wie in einem Roman von Thomas Hardy. Zugleich sind das universelle Formen, die wir alle teilen, ob wir reich sind oder arm. Der Unterschied bei diesen Figuren mag sein, dass sie absolut in der Gegenwart zu leben scheinen.

STANDARD: Sabrina und Belinda sind Jenische. Was ist das für eine Gemeinschaft?

Dumora: Die Jenischen leben heute im Elsass, in Lothringen, in Deutschland, viele in der Schweiz. Eine Besonderheit bei den Jenischen ist, dass es keinen Konsens gibt, woher sie kommen. Eine Hypothese vermutet ihren Ursprung im Dreißigjährigen Krieg, im deutschsprachigen Raum. Sie sind katholisch und waren Teil der Fahrenden. Menschen, die ein hartes Leben auf der Straße führten. In ihrer Sprache gibt es Elemente aus dem Jiddischen, aus dem Deutschen, etwas Sinti. Es gibt kein großes Interesse an dieser Gemeinschaft. Sie selbst finden nichts Besonderes an sich. Belinda sagte mir, dass sie eine Devise haben: "Immer aufrecht. Nie auf den Knien." Das ist alles, was sie weiß.

STANDARD: Es gibt eine Episode, die einen weiteren, traumatischen Horizont aufreißt: die Geschichte von Belindas Großeltern und deren Verfolgung in der NS-Zeit.

Dumora: Ich wusste natürlich, dass die Jenischen seit langer Zeit verfolgt werden, aber die Details in Belindas Familiengeschichte kannte ich nicht. Plötzlich tauchte dieses Porträt der Großeltern auf, das aussieht, als hätte es Walker Evans fotografiert. Es ist eine bewegende Szene. Sie zeigt, wie wenig diese Menschen die Neigung haben, uns für ihre Verfolgung in die Verantwortung zu nehmen. Das hat mich sehr beschäftigt. Sie haben die Repression so sehr internalisiert. Aber über ein Detail wie dieses Foto kann sie sichtbar werden. (Robert Weixlbaumer, 23.10.2017)