Die silbergrauen Haare fließen über ihre schlanken Schultern, ihr Gesicht verschwindet fast unter der großen, schwarzen Sonnenbrille. Eveline Hall kann ihren Unmut trotzdem nicht verbergen, ihr wurde ein falscher Interviewtermin kommuniziert. Macht aber nichts. Das 72-jährige Model sitzt wenige Minuten später im Barbereich des Arcotel Kaiserwasser kerzengerade vor seinem Wasser. In dem Hotel in Donaunähe wohnt die Deutsche, wenn die Aufnahmen für das österreichische Nachwuchsmodelformat "Austria's Next Topmodel" anstehen.

Eveline Hall gehört in diesem Jahr neben der Modedesignerin Marina Hoermanseder und dem deutschen, von oben bis unten tätowierten Model Daniel Bamdad zur Jury. Sie ist das bislang älteste Jurymitglied der Sendung, fehlplatziert wirkt sie trotzdem nicht. Die Frau mit den silbergrauen Haaren scheint ähnlich wie Karl Lagerfeld dem Alter ein Schnippchen zu schlagen: Eveline Hall segelt wie das Model Carmen Dell'Orefice, Jahrgang 1931, oder die New Yorkerin Linda Rodin, Ende sechzig, auf der Erfolgswelle.

Ohne ihre Figur, bekundet die 72-jährige Eveline Hall, hätte sie auch im Alter keine Karriere als Model gemacht.
Foto: Bernhard Eder

Statt für die Dritten von Kukident lächeln zu müssen, werben die schönen Silberschöpfe seit einigen Jahren für High Fashion und jugendliche Modeketten. Die mittlerweile 73-jährige Lauren Hutton warb zuletzt für das Unternehmen Bottega Veneta und in Unterwäsche für Calvin Klein, Daphne Selfe mit knapp neunzig für Primark. Hier ein Fältchen, da ein graues Haar, die erfahrenen Models werfen Altersweisheit, Glaubwürdigkeit und Authentizität in die Waagschale, auf so was stehen die Endkonsumenten.

Silbergrauer Schopf

Doch wer ist Eveline Hall, die Frau, deren silbergrauer Schopf in den letzten Jahren durch die Magazine geisterte? Erst einmal ist die gebürtige Greifswalderin eine Erscheinung – und das nicht nur optisch. Hall, die einst als Tänzerin auf den großen Bühnen stand und zwischendurch auch in Paris auf den Laufstegen, ist nicht nur bis in die Haarspitzen Perfektionistin, sie tut auch ihre Meinung frei Schnauze kund – ein Lagerfeld hätte seine Freude an der Schlagfertigkeit und dem polternden Charme der Norddeutschen.

Hall wurde 1945 in Greifswald im Osten Deutschlands geboren, sie wuchs in Hamburg auf. In dem Alter, in dem heute die Mädchen der großen Modelkarriere und der Teilnahme an Contests wie "Austria's Next Topmodel" nachhängen, stand sie bereits auf Spitzenschuhen im Ballettsaal. Durchhaltevermögen und Disziplin hat sich Hall bewahrt, im Hotelzimmer trainiere sie täglich, komme was wolle, erklärt sie. Ein Fitnessstudio? Hall setzt ein verächtliches Grinsen auf: Was andere Leute alles bräuchten! Sie braucht nicht mehr als ein Hotelzimmer.

Ob sie selbst als Teenager teilgenommen hätte an einem Format wie "Austria's Next Topmodel"? "Nein, natürlich nicht, ich war ja Tänzerin", Eveline Hall schaut diesmal entrüstet. Der Berufswunsch Model stand damals nicht zur Debatte. Vielleicht auch, weil Anfang der 1960er-Jahre noch nicht jedes zweite Mädchen davon träumte, als Model groß rauszukommen. Und weil dieser Traum noch nicht zum Greifen nah schien. Heute ist das anders, Social-Media-Kanäle machen glauben, dass jeder zum Star werden kann. Sendungen wie "Austria's Next Topmodel" sind die Steigbügelhalter der Generation Instagram, die das Geschäft mit dem Glamour selbst anpackt.

Ob die 72-Jährige versteht, warum der Modeljob einen solchen Reiz auf junge Mädchen und Buben ausübt? "Weil sie denken, sie verdienen so Millionen", da ist sich Hall sicher. Sie selbst hat keine Millionen verdient, dazu ist sie viel zu spät eingestiegen in die Modebranche. 2011 wurde Hall, unter John Neumeier an der Hamburger Staatsoper zur Tänzerin ausgebildet, später Schauspielerin am Thalia-Theater und Showgirl in Las Vegas, wiederentdeckt – erst von dem Hamburger Modelagenten Ted Linow und dann von dem Berliner Modedesigner Michael Michalsky.

Der Berliner Tausendsassa mit Hang zu großen Schlagzeilen veranstaltete damals im Rahmen der Berliner Modewoche die große Abschlussshow. So eine wie Eveline Hall kam genau richtig. Michalsky ließ sie als die hanseatische Antwort auf Jerry Hall auf den Laufsteg. Die einstige Tänzerin nutzte den Auftritt, die Zeitungen schrieben über die Frau mit der ungeheuren Disziplin und der großen Klappe.

Die Norddeutsche, deren Eleganz weit hinausreichte über die eines normalen Seniorenmodels, machte dank ihrer Exzentrik und der schmalen Statur eine späte Karriere. "Mein Leben hat sich mit einem Schlag verändert, ich hatte das Gefühl, ich sei wieder 25." Kein Wunder, Hall wurde von Größen wie Peter Lindbergh, Patrick Demarchelier, Ellen von Unwerth fotografiert. 2013 brachte das Neomodel ein Buch über sein früheres Leben und sein spätes Glück heraus. Das hieß "Ich steig aus und mach 'ne eigene Show".

Auf Händen getragen

In letzter Zeit hat Eveline Hall viel Haarwerbung gemacht, doch der Modeljob macht ihr nach wie vor Spaß: "Man wird auf Händen getragen." Das Gefühl kennt die Tänzerin aus der Vergangenheit nicht, früher, auf der Bühne, habe sie oft "Angst vor Auftritten, vor dem Nichtgenügen" gehabt. So jugendlich Eveline Hall auch wirkt, die Norddeutsche ist ganz alte Schule und ein wenig auch eine Nostalgikerin.

Instagram mag sie nicht, und wie die Models heute den Laufsteg rauf- und runtermarschieren, dazu fällt ihr nur ein Augenrollen ein: "Wir waren große Tänzerinnen, und die Musik war auch besser." Hall sagt Sachen wie: "Früher gab es in dem Business besondere Gesichter und Menschen, heute will jeder Model sein." Oder: "Man wird so schnell keine Naomi oder Claudia Schiffer aus dem Boden stampfen. Es ist nur wenigen klar, wie schwer es ist, ein Ausnahmemodel zu werden."

Warum diese eigensinnige 72-Jährige dann ausgerechnet bei "Austria's Next Topmodel" dem österreichischen Modelnachwuchs auf die Sprünge helfen will? Eine wie Eveline Hall sieht sich auf Missionierungskurs: "Ich will Dinge verbessern. Ich will, dass Models mehr können, Karrieren länger als nur zwei Jahre andauern." Ihr sei es ein Anliegen, dass der Nachwuchs nicht im Allerlei des Mainstreams unterginge. Sie wolle den Mädchen und Jungs beibringen, nicht zu sehr nach rechts und nach links zu sehen: "Schaut, wer ihr selbst seid! Ich will auch keine Marilyn Monroe aus mir machen." Das wäre vergebene Liebesmüh. (Anne Feldkamp, RONDO, 31.10.2017)

Die Grandes Dames der Generation Silberhaar

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Foto: Getty Images / Patrick McMullen

Sie ist zwar kaum faltig, aber auch mit 86 erfolgreich: die New Yorkerin Carmen Dell'Orefice. Eine Anfängerin ist die Frau mit dem weißen Schopf keineswegs, vielmehr ein alter Hase: Bereits als 16-jähriger Teenager zierte sie das Cover der "Vogue", später stand sie Salvador Dalí Modell. Heute gilt die Amerikanerin, die seit Jahrzehnten auf Silikonspritzen schwört, als das dienstälteste Model weltweit – und hat immer wieder große Auftritte. Dell'Orefice war im letzten Herbst in einer Kampagne des deutschen Bling-Bling-Spezialisten Philipp Plein zu sehen, für die chinesische Designerin Guo Pei legte das Couture-Model in einem blutroten Kleid einen pompösen Auftritt hin. Das soll der 86-Jährigen erst einmal ein junger Hüpfer nachmachen.

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Foto: Getty Images / Roy Rochlin

Ihr Instagram-Account zählt sensationelle 198.000 Follower, und auch sonst ist das New Yorker Model Linda Rodin außerordentlich beweglich. Ihr Look (sophisticated und irgendwie "New York") ist jugendlich, ihre Figur auch. Deshalb kann sich die Frau, die in den 1970ern Moderedakteurin beim Magazin "Harper's Bazaar" war und als Stylistin schon Madonna oder Halle Berry betreute, über mangelnde Modelaufträge nicht beschweren: Mit ihrem Pudel Winks ziert sie Editorials internationaler Magazine, zuletzt modelte sie gemeinsam mit ihrem Hund für das japanische Unternehmen Uniqlo. Eine clevere Geschäftsfrau ist Rodin auch: Ihre Hautpflegemarke Rodin Olio Lusso wurde vor einigen Jahren von dem Unternehmen Estée Lauder übernommen.

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Diese Frau ist sexy, diese Frau hat Klasse, darüber sind sich die Designer einigermaßen einig. Und buchen gerade wie verrückt die 73-jährige Lauren Hutton. Die verzauberte schon in ihren Zwanzigern alle: dieser Mund, diese Zahnlücke! 1964 wurde die US-Amerikanerin, 1943 in South Carolina geboren, von der New Yorker Agentur Ford übernommen, ihrer Modelkarriere folgten Auftritte als Schauspielerin – Seite an Seite mit Robert Redford und Richard Gere. Seit einigen Saisonen wird die 73-Jährige nun wieder von der Mode an ihr Herz gedrückt: Hutton lief neben Instagram-Star Gigi Hadid für Bottega Veneta über den Laufsteg, für Calvin Klein modelte sie gar in Dessous und sah dabei so sexy wie eh und je aus der Wäsche.