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Mediziner unter sich: Ein Gemälde zeigt den Chirurgen Theodor Billroth bei einer Operation in einem Hörsaal des AKH Wien vor staunenden Studenten – Patienten waren oft lebendiges Anschauungsmaterial.

Foto: Erich Lessing / Picturedesk

Wien – "Das Naturgesetz", so der Gynäkologe Joseph Spät in seiner Rektoratsrede über "das Studium der Medizin und die Frauen" am 12. November 1872, weise "jedem Wesen eine bestimmte Mission in der Schöpfung" zu. Da die Frau im Gegensatz zum Mann in all ihren Lebensphasen von Hormonen abhängig sei, könne sich die ihre nicht in Hörsälen erfüllen. "Wenn etwas geeignet ist, die beiden Geschlechter einander gründlich zu entfremden, so ist es die Wehrhaftmachung des Weibes zu dem Kampfe, den wir untereinander führen", meinte auch Carl Rokitansky, Inhaber des Lehrstuhls für Pathologische Anatomie an der Uni Wien, in seiner Abschiedsrede 1875.

Es war ein intellektuell äußerst produktives Milieu, in dem sich die berühmte Wiener Medizin entwickeln konnte. Aber sie existierte nicht unabhängig von politischen, ideologischen und gesellschaftlichen Einflüssen. "Die Universität war damals ein durch und durch männlich dominierter Raum – von Machtansprüchen bestimmt und von Konkurrenz beherrscht", weiß Felicitas Seebacher von der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Gemeinsam mit dem ehemaligen Mediziner und ÖAW-Präsidenten Helmut Denk leitet sie eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Medizin, deren Erkenntnisse die "oftmals unkritisch tradierten Fortschrittserzählungen" relativieren werden.

Kein Platz für Konkurrenz

Erste Ergebnisse hat die Arbeitsgruppe gemeinsam mit dem Josephinum, das die Sammlungen der Medizingeschichte der Med-Uni Wien beherbergt, vergangene Woche bei der Tagung "Lokale Strukturen und globale Netzwerke. Die ,Wiener Medizin' 1848-1955" präsentiert. Wenn es um die äußerst produktive Wiener Schule geht, ist etwa wenig davon zu lesen, wie der Kampf gegen das Frauenstudium an den medizinischen Fakultäten der ausgesprochen konservativen Habsburgermonarchie geführt wurde oder welche Rolle internationale Netzwerke bei dessen Durchsetzung im Jahr 1900 spielten.

Dass die biologistischen Zuschreibungen gegenüber Frauen auch noch lange aufrechterhalten wurden, sei – wie auch der parallel zum Antifeminismus wachsende Antisemitismus – vor allem auf (wirtschaftliche) Veränderungsängste zurückzuführen, ist Seebacher überzeugt. "Der eigentliche Grund der Ablehnung war die Angst vor potenziellen Mitbewerberinnen an der Medizinischen Fakultät und in den Arztpraxen."

Immerhin war der Arbeitsmarkt schon mit Medizinern überfüllt, und auch an den Unis wollte man sich keine unkontrollierbare Konkurrenz heranzüchten: "Solange der Schwerpunkt der Leitung der sozialen Ordnung noch in dem männlichen Geschlechte ruht", sehe man keinen Grund, "den Frauen an den Universitäten ein Terrain einzuräumen, welches in der Zukunft unmöglich zu begrenzen wäre", hieß es in einem Erlass des Unterrichtsministeriums aus dem Jahr 1878.

Nach fast 140 Jahren der Öffnung der Geschlechtergrenzen stellen Frauen mit etwas mehr als 50 Prozent die Mehrheit der Studierenden an den österreichischen Med-Unis. Bei unseren deutschen Nachbarn sind sogar an die 65 Prozent aller zum Medizinstudium Zugelassenen Frauen. Wenn heute wieder vor den Folgen einer "Feminisierung" der Ärzteschaft gewarnt wird, erinnert das also unweigerlich an die Ängste der damaligen Hüter der medizinischen Gelehrsamkeit.

Im Kampf um das Frauenstudium spielten lokal und international vernetzte Gruppen wie der "Verein für erweiterte Frauenbildung in Wien" eine zentrale Rolle. So wurde dank zahlreicher Petitionen und zäher Lobbyarbeit 1895 an der Uni Wien eine "Damenakademie" eingerichtet, wo Frauen einige medizinische Vorlesungen besuchen, aber keinen Studienabschluss machen durften. Das Recht auf ein richtiges Medizinstudium für Frauen wurde dann fünf Jahre später gesetzlich verankert.

Rechtlose Patienten

Wenig Raum in der strahlenden Geschichtsschreibung der Wiener Medizin wurde bisher auch den Patientenrechten gewidmet. Dass Patienten im Hörsaal mit ihren Krankheiten oder Missbildungen den Studenten als lebendes Anschauungsmaterial dienten, war bis vor gar nicht so langer Zeit völlig selbstverständlich. Der berühmte Chirurg Theodor Billroth wurde sogar bei einer Operation im Hörsaal inmitten staunender Studenten porträtiert.

Gab es überhaupt so etwas wie einen rechtlich verankerten Persönlichkeitsschutz für Patienten? "Mit dem Inkrafttreten des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches 1812 in Österreich wurde durch §16 erstmals die gesetzliche Grundlage für einen umfassenden Schutz der Person gelegt", erklärt die Juristin Anne-Kristin Fischer. "Die entsprechende Rechtsprechung ist allerdings sehr viel jünger als das Gesetz selbst."

Würdelose Abbildungen

So war es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich, Patienten mit "interessanten" Krankheiten gut erkennbar und mit vollem Namen in medizinischen Zeitschriften abzubilden. "Erst später geht man zu Detailaufnahmen ohne Gesicht und die Verwendung von Initialen über", sagt Fischer. Bis 1872 war außerdem noch der Unterricht am Krankenbett üblich, später nahm man die Patienten dann in den Hörsaal mit. Dass es mit den Patientenrechten zur Blütezeit der Wiener Medizin nicht weit her war, erschließt sich auch aus den damaligen Ärzteratgebern, in denen vom Patienten unbedingter Gehorsam und Unterwerfung unter die ärztliche Autorität gefordert wurde.

Die von der fachübergreifenden Arbeitsgruppe analysierten Fallbeispiele einer von den herrschenden Werten und unterschiedlichen Lobbys geprägten Wiener Medizin beleuchten deren Entwicklung darüber hinaus auch noch aus weiteren Perspektiven: Sie erzählen von ihrer Ausstrahlung bis nach Persien und in die USA, von ihrem Niederschlag in der Literatur Arthur Schnitzlers ebenso wie von ihrem Umgang mit Antisemitismus. Ein Sammelband mit den entsprechenden Aufsätzen ist übrigens für 2018 geplant. (Doris Griesser, 29.10.2017)