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Das ewige Eis der Alpen ist nicht so ewig, wie es einst schien: Die schmelzenden Gletscher geben Artefakte und Überreste Verstorbener frei – zur Freude der Gletscherarchäologen.

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Thomas Bachnetzer von der Uni Innsbruck bei der Bergung von Fundstücken am Umbalkees in den Hohen Tauern in Osttirol.

Thomas Bachnetzer, Institut f. Archäologien, Universität Innsbruck

Innsbruck – Norbert Mattersberger aus Matrei in Osttirol brach im Jahr 1839 zur Jagd in die Berge auf und kam nicht mehr zurück. Was aus dem 43-jährigen Knecht geworden war, offenbarte sich erst 90 Jahre später. Am 9. August 1929 wurde am 2700 Meter hoch gelegenen Gradetzkees eine ausgeaperte Leiche gefunden. Brust und Rücken waren gut erhalten, der Kopf fehlte. Eine Schulter trug noch einen ledernen Hosenträger. Vorderladergewehr, Klappmesser, Taschenuhr und andere Utensilien fanden sich im Umkreis.

Wie der mutmaßliche Wilderer zu Tode kam, ist unbekannt. Vielleicht stürzte er in eine Gletscherspalte. Vielleicht hängt auch die Geschichte eines Jägers, der auf dem Totenbett einen Mord in diesen Bergen gestand, mit Mattersbergers Schicksal zusammen. Seine Überreste fanden am Friedhof in Kals am Großglockner ihre letzte Ruhestätte, die Ausrüstung kam ins Museum.

Klimawandel legt Eiskonserven frei

Was 1929 vielleicht noch als verzögerte Beerdigung betrachtet wurde, ist heute ein Fall für die Gletscherarchäologie. Die durch den Klimawandel abschmelzenden Gletscher geben da und dort Artefakte oder konservierte Körper frei. Heute verfahre man mit ihnen aber anders als damals, sagt Harald Stadler vom Institut für Archäologien der Universität Innsbruck, der auch den Fall Mattersberger aufgearbeitet hat. Man konserviere und untersuche die Überreste . Man gehe mit kriminalistischem Gespür den Ursachen ihres Verbleibs im Eis nach. Das Projekt, die Reste des Wilderers doch noch zu exhumieren und mit modernen Methoden zu untersuchen, kam bisher nicht zustande.

Schafherde vor dem Umbalkees in Osttirol. Forscher bargen dort ein Militärflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg.
Thomas Bachnetzer, Institut f. Archäologien, Universität Innsbruck

Stadler hat sich im vergangenen Jahrzehnt um die Etablierung der Gletscherarchäologie in Österreich bemüht. "Es hat schon im 20. Jahrhundert immer wieder Funde gegeben, die – wie der Wilderer – von archäologischer Seite aber kaum wahrgenommen wurden", blickt der Wissenschafter zurück. "Für die Forschung in Europa war Ötzi der große Startschuss."

Nachdem 1991 am Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen eine fast unversehrte, über 5.000 Jahre alte Gletschermumie aus der Jungsteinzeit samt Ausrüstung gefunden wurde, kam allmählich eine systematische Suche und Aufarbeitung von Gletscherfunden in Gang. Mit der rapiden Gletscherschmelze in den Alpen häufen sich die Fundmeldungen: Das Eis gab bereits Überbleibsel des Bergbaus in den Hohen Tauern frei, Soldatenleichen aus dem Ersten Weltkrieg in der Südtiroler Ortlergruppe sowie eine meterlange Holzarbeit aus dem Hochmittelalter mit noch unbekannter Funktion im Tiroler Oberland.

Mit Föhn und heißem Wasser

"Viele Methodiken, wie man Funde möglichst rasch, präzise und zerstörungsfrei freilegt, untersucht und konserviert, wurden erst in den vergangenen 20 Jahren entwickelt", erklärt Stadler. Man hat sich etwa Techniken und Werkzeuge der Bergretter zum Vorbild genommen, um mit speziellen Föhnen oder heißem Wasser Artefakte freizulegen, die zuvor mit Sonden und Georadar geortet wurden.

Die Eisriesen lassen sich ihre archäologischen Schätze aber nicht leicht entlocken. "Wir haben nur ein kurzes Zeitfenster von Mitte Juli bis September für die Suche. Heuer sind beispielsweise alle sechs Termine für Gletscherbegehungen aufgrund der Wetterbedingungen geplatzt", bedauert Stadler. "Wir hätten gerne die Möglichkeiten des US-Verteidigungsministeriums, um die Gletscherränder mit Satelliten zentimetergenau zu beobachten."

2017 ging ein zweijähriges, von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Rahmen des "Earth System Sciences"-Programms unterstütztes Gletscherarchäologieprojekt unter Stadlers Leitung zu Ende. Teil davon war die Etablierung eines "Vorhersagemodells für gletscherarchäologische Funderwartungszonen". Stadlers Kollegin Stephanie Metz identifizierte dabei aussichtsreiche Regionen für die Suche.

"Das Vorhersagemodell vereint naturwissenschaftliche und historische Gesichtspunkte", erläutert Stadler. Satellitenaufnahmen, topografische Daten, Informationen über historische Routen, bekannte Fundorte und vermisste Personen, Sonneneinstrahlung im Jahresverlauf, bisherige Gletscherrückgänge und weitere Daten fließen in das Modell ein.

Auf historischen Bergrouten

Viele historische Routen über die Berge sind heute nicht mehr nachvollziehbar. Thomas Bachnetzer und Kollegen aus Stadlers Team suchten deshalb unter anderem nach den "energieeffizientesten" Strecken: Faktoren wie Distanz und Hangneigung verschiedener Übergänge wurden in den Kalorienbedarf einer Person umgerechnet, die zu Fuß mit beispielsweise 25 Kilogramm Gepäck unterwegs ist. Die am wenigsten aufwendigen Strecken, die vielleicht auch fernab der Hauptrouten liegen, bergen die besten Chancen auf neue Funde. "Das heißt aber nicht, dass nicht andernorts auch Funde möglich sind. Jagd, Flucht oder die Suche nach Bergkristallen haben die Menschen an die unmöglichsten Orte gebracht", sagt Stadler.

Neben der aktiven Suche durch die Wissenschafter ist die Gletscherarchäologie darauf angewiesen, dass Bergsteiger Funde melden. Wie man das richtig macht, ist mittlerweile Broschüren zu entnehmen, die im Rahmen des Projekts von Bachnetzer erarbeitet wurden und in den Gletschergebieten aufliegen. Eine Handvoll Meldungen trudelten bereits bei den Archäologen ein. In einem Folgeprojekt sollen die Bemühungen noch verstärkt werden.

Vorhersagemodell für ergiebige Gletscher

Das Vorhersagemodell wurde bisher für zwei Gletscherregionen angewandt. Als besonders fruchtbar hat sich die Suche im Umbaltal in den Hohen Tauern in Osttirol gezeigt. Bereits Anfang der 2000er-Jahre bargen Stadler und Kollegen im Rahmen eines Projekts tausende Teile einer Junkers Ju 52, eines Militärflugzeugs aus dem Zweiten Weltkrieg. Vom Motor bis zum Parfümfläschchen eines Besatzungsmitglieds war alles dabei.

Am Vorderen Umbaltörl, einem seit längerem eisfreien Übergang auf knapp 3000 Metern, wurde im Rahmen des ÖAW-Projekts das bisher älteste Gletscherartefakt Österreichs gefunden. Es handelt sich um ein kurzes Holzstück, das neun parallel geschnitzte Einkerbungen trägt. "Mit den Kerben wurden wahrscheinlich Waren oder Vieh gezählt, die hier transportiert oder getrieben wurden", interpretiert Stadler. Das Holzstück stammt aus der Eisenzeit und datiert immerhin auf 700 bis 400 vor Christus. (Alois Pumhösel, 27.10.2017)