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Junge Studentin in Neapel, 1960er Jahre.

Foto: Mondadori via Getty Images

Elena Ferrante, "Die Geschichte der getrennten Wege. Erwachsenenjahre". 541 Seiten / € 24,70. Suhrkamp 2017.

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Wien – Die Weinstein-Affäre hat einen öffentlichen Diskurs über eine auf strukturell gefestigten Machtverhältnissen ruhende Unkultur im Verhalten zwischen den Geschlechtern losgetreten. Die Literatur liefert entsprechende Beispiele schon länger. Zugrunde liegende Mechanismen des Machtmissbrauchs werden nicht zuletzt in Elena Ferrantes mittlerweile berühmter neapolitanischer Saga über eine Jahrzehnte umspannende Frauenfreundschaft offenkundig. Nun ist Teil drei von Meine geniale Freundin auf Deutsch erschienen: Die Geschichte der getrennten Wege.

Die analytische Selbstbeobachtungsgabe der Ich-Erzählerin, die sich im Gegensatz zu ihrer gleichaltrigen Freundin eine akademische Karriere erstritten hat und nun verheiratet und als zweifache Mutter im Florenz der 1960er-Jahre lebt, fördert immer wieder Unterlegenheitserfahrungen zutage, die auf paternalistischen Verhaltensmustern fußen. Elena – sie teilt sich den Vornamen mit der unter Pseudonym schreibenden Autorin – hält als von altehrwürdigen Kollegen oft übertönte junge Mitstreiterin immer wieder mit ihrer Meinung hinterm Berg – und ist sich dessen zugleich sehr bewusst. Sexuelle Übergriffe, die durch alle Gesellschaftsschichten hindurch ganz nonchalant stattfinden, wehrt sie, so gut sie kann, ab, schweigt aber darüber aus Scham und aus dem Wissen, dass sie auf dem kürzeren Ast sitzt.

Klassen-, Geschlechterkampf

In dieser prononciert weiblichen Perspektive, einer Nachkriegsgeneration von Frauen, der erstmals neue Bildungswege offenstanden sowie eine "sexuelle Revolution" bevor, mag auch der weltweite Erfolg der Tetralogie begründet liegen: Sie erzählt von Entwicklungen, denen in dieser Breite und Präzision bisher noch eine solch fokussiert weibliche Stimme fehlte.

Es geht dabei nicht nur um den Geschlechterkampf oder um Diskurshoheiten, sondern auch um den Klassenkampf, der im Italien der Nachkriegszeit entschieden an Fahrt aufgenommen hatte. Mit dem Partito Comunista Italiano (PCI) steht die damals stärkste kommunistische Partei Westeuropas einer bürgerlichen Regierung gegenüber. Die Anspannung ist groß. Der Moment der Veränderung wird von nicht selten gewalttätigen Arbeiter- und Studentenprotesten herbeigesehnt – Elena und Lina sind mittendrin: junge Frauen, die als Individuen eine Generation neu mitbegründen.

Serienumfang

Dass die zunächst als Fabrikarbeiterin in Neapel verbliebene, "geniale" Lina in ihrem späteren Job als Computerfachfrau nur 100.000 Lire verdient, während ihr Gefährte, wiewohl weniger talentiert, gleich 350.000 kriegt, wird beinahe noch als "natürlich" zur Kenntnis genommen. Doch spürt man in der revolutionären Aufbruchstimmung, die sich von internationalen Kämpfen in Deutschland und Frankreich nährt, ein Unbehagen keimen, dem auch eklatante (private) Ausbruchsversuche folgen.

Der Serienumfang (vier Teile mit jeweils bis zu über 500 Seiten) ermöglicht ein präzise ausgemaltes Gesellschaftstableau. In seiner Farbenprächtigkeit und im Verketten von persönlicher und Zeitgeschichte ist das vergleichbar mit Fernsehprodukten wie beispielsweise Mad Men.

Dabei gelingt es Übersetzerin Karin Krieger wieder, die von Gewalt geprägte Dialektsprache des neapolitanischen Rione lebendig zu machen, samt seiner Distinktionsfunktion. Diese bekommt die in den Norden des Landes übersiedelte und damit den gesellschaftlichen Aufstieg vollzogen habende Elena in akademischen Gesprächen zu spüren.

Zu den größten Vergnügungen zählt es, den auch von Eifersucht oder Hass angetriebenen Beschreibungen der fernen proletarischen Freundin zu folgen. Sie sind voller Bewunderung und Ablehnung zugleich, brutal und todernst. Und sie erlösen das Motiv der Freundschaft von der Verklärung süßer Zuneigung. (Margarete Affenzeller, 26.10.2017)