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Eine katalanische Flagge auf einem Balkon in Barcelona.

Foto: REUTERS/Ivan Alvarado

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Immer wieder gab es zuletzt Großdemonstrationen von Befürwortern der katalanischen Unabhängigkeit. Diese Woche soll die Entscheidung fallen, ob die Region ihre Autonomie verliert.

Foto: Reuters / Gonzalo Fuentes

"Wir stehen vor einer Besatzung. Sie werden grundlegende Funktionen übernehmen, ohne irgendwelche demokratischen Regeln", befürchtet Maite Arqué für den Fall, dass Spaniens konservative Regierung von Mariano Rajoy spätestens am Samstag per Verfassungsartikel 155 die Autonomie Kataloniens außer Kraft setzt. Die katalanische Regierung (Generalitat) von Carles Puigdemont wird dann des Amtes enthoben, die Region von Madrid aus verwaltet.

Wenn Arqué spricht, ist nur noch wenig von dem Elan zu spüren, mit dem die 74-Jährige am 1. Oktober in Badalona zu der vom Verfassungsgericht verbotenen Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens ging. Arqué gehörte dem "Nationalen Pakt für ein Referendum" an. Das Bündnis aus Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit, die nur der Wunsch nach einer freien Abstimmung einte, versuchte vergebens, mit Madrid ein Referendum in beiderseitigem Einverständnis zu organisieren.

"Ich bin völlig ratlos. Ich habe keine Idee, was zu tun ist", gesteht Arqué, hinter der ein langes politisches Leben liegt. Sie hat die Franco-Diktatur erlebt und den Übergang zur Demokratie mit der Wiedereinführung der Selbstverwaltung Kataloniens. Arqué gehörte lange Jahre der Sozialistischen Partei Kataloniens (PSC) an, die mit dem spanischen PSOE zusammenarbeitet. Sie war Bürgermeisterin in der drittgrößten Stadt der Region, Badalona, und dann mehrere Jahre lang Abgeordnete im Senat, der zweiten Kammer des spanischen Parlaments, der diese Woche über den Artikel 155 abstimmen muss. Schließlich zog sie sich aus dem PSC zurück, als die Sozialisten 2015 die Forderung nach einem Referendum aus dem Programm strichen.

Repressionen schon zuvor

"Der Artikel 155 ist genau genommen schon vor dem 1. Oktober in Kraft getreten", beschreibt sie die Lage und verweist auf die Durchsuchungen von katalanischen Regierungsgebäuden, Druckereien und Redaktionen sowie auf die Festnahme hoher Regierungsbeamter, als die Behörden nach Material für die Volksabstimmung fahndeten. "Es ist das erste Mal, dass der Artikel 155 zum Einsatz kommt. Sie werden machen, was sie wollen", ist Arqué überzeugt.

Genau das befürchtet auch die Direktorin der Volksschule La Salut in Badalona, Teresa Vivancos. Rajoys konservativer Partido Popular (PP) sei "autoritär". "Der PP hat immer wieder Klagen gegen Katalanisch als Unterrichtssprache eingereicht", sagt sie. "Wenn sie jetzt das Bildungsministerium in Barcelona übernehmen, lässt dies nichts Gutes erwarten." Viele Rektoren haben in den sozialen Netzwerken bereits angekündigt, keine Befehle aus Madrid annehmen zu wollen.

Medien in Sorge

"Es ist, als würden wir in die Zeit vor der Verfassung von 1978 zurückfallen", beschwert sich Ramón Espuny. Der Kulturredakteur bei TV3 ist Vorsitzender der Journalistengewerkschaft in Katalonien und sitzt im Betriebsrat des öffentlichen Regionalfernsehens. Espuny kommt gerade aus einer Betriebsversammlung. "Wir diskutierten über die Folgen von Artikel 155 und die Möglichkeiten, unsere Arbeit zu verteidigen", erklärt er. Denn die Chefetage des Senders mit 1900 Mitarbeitern soll, so sieht es der Regierungsplan zur Umsetzung des Artikels vor, ausgetauscht werden.

Das Gleiche gilt für Catalunya Ràdio. "Als öffentlicher Sender unterstehen wir in Katalonien dem Parlament. Wie kann da Madrid einfach eine neue Führung einsetzen?", fragt Espuny. Was ihn zuversichtlich stimmt: "Auf der Betriebsversammlung ging es nur um unsere berufliche Ethik, um unsere Professionalität. Es gab zu keinem Zeitpunkt Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit."

Der einzige Ausweg, den Espuny sieht, ist ein "taktischer Rückzug Puigdemonts", um so die Anwendung von Artikel 155 im letzten Moment noch zu verhindern. "Wenn nicht, wird alles zugrunde gehen, was wir in Katalonien mühsam in 40 Jahren Selbstverwaltung aufgebaut haben."

Die Verwalter aus Madrid seien durch nichts legitimiert und würden dennoch über abertausende Beamte befehligen, beschwert sich auch Maties Serracant, Bürgermeister von Sabadell. Er gehört der antikapitalistischen Kandidatur der Volkseinheit (CUP) und damit dem radikalsten Flügel der Unabhängigkeitsbewegung an. Er fürchtet, dass Madrid versuchen könnte, Parteien wie die seine verbieten zu lassen. "Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt", sagt er.

Risiko für die Wirtschaft

Serracant verweist darauf, dass mehr als 9000 gewählte Vertreter auf allen Ebenen für die Unabhängigkeit seien. 712 der insgesamt 960 katalanischen Gemeinden hätten die verbotene Volksabstimmung abgehalten. Was ihm kurzfristig am meisten Sorgen macht: "Was wird mit den ganzen Investitionen der Generalitat, wie zum Beispiel dem Umbau der Pendlerzuglinien in unserer Stadt?"

Die Unsicherheit beeinträchtige die wirtschaftliche Entwicklung Kataloniens und damit mittelfristig den Arbeitsmarkt, erklärt Javier Pacheco, der Vorsitzende der größten Gewerkschaft Spaniens, der CCOO, in Katalonien. 1300 Unternehmen hätten mittlerweile ihren Hauptsitz aus Katalonien wegverlegt. Artikel 155 könne diese Tendenz noch verstärken.

Mittlerweile überlegt sich – so die "Wirtschaftspresse" – selbst Volkswagen, die spanische Marke Seat aus Katalonien abzuziehen. Pacheco versucht, optimistisch zu bleiben. "Bis Freitag ist immer noch Zeit für Dialog", sagt er und verweist auf seine Organisation, in der 185.000 Unabhängigkeitsbefürworter und -gegner friedlich zusammenarbeiten. (Reiner Wandler aus Badalona, 25.10.2017)