Vor dem Gericht in Istanbul wurde für die Freilassung der Menschenrechtler demonstriert.

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Athen/Istanbul – Mit eineinhalb Stunden Verspätung und in einem Gerichtssaal, der – wie gewöhnlich bei diesen Anlässen – viel zu klein für den Publikumsandrang war, hat am Mittwochmorgen in Istanbul der Prozess gegen elf Menschenrechtler begonnen. Familienangehörige, internationale Beobachter, prominente Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft und Parlamentsabgeordnete drängten sich durch den Korridor, der zum Saal der 35. Kammer für schwere Straftaten im Justizpalast führt.

Mehr als drei Monate nach ihrer Verhaftung sollen sich die Türkei-Direktorin von Amnesty International (AI), İdil Eser, der türkische AI-Präsident Taner Kılıç, der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner und weitere Aktivisten zur Anschuldigung äußern, sie seien Mitglieder von Terrororganisationen.

Premiere für AI

In 60 Jahren Geschichte von Amnesty International ist es das erste Mal, dass führende Vertreter der Organisation wegen ihrer Arbeit vor Gericht stehen. Der Kovorsitzende der deutschen Grünen, Cem Özdemir, bezeichnete die deutschen Häftlinge in der Türkei wie Peter Steudtner oder den Zeitungskorrespondenten Deniz Yücel in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am Mittwoch als "Geiseln". Sie müssten sofort freigelassen werden.

"Es kann nicht sein, dass Menschen, die ihre Meinung äußern, die sich für Demokratie, für Menschenrechte einsetzen, mit an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen eingesperrt werden", sagte der Grünen-Politiker. Özdemir wird als möglicher neuer Außenminister gehandelt.

Lange U-Haft

Steudtner, Eser und acht andere Teilnehmer eines Workshops zum Thema Datensicherheit waren am 5. Juli verhaftet worden. Zwei Wochen später entschied ein Richter, dass sie in Untersuchungshaft genommen werden. Diese kann in der Türkei bis zu fünf Jahren dauern. Der Präsident von AI in der Türkei, Taner Kılıç, war bereits im Juni verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen anzugehören, einem früheren politischen Verbündeten der Regierungspartei AKP. Kılıçs Fall wurde kurzerhand dem Strafverfahren gegen die Teilnehmer des Workshops angeschlossen.

Beim ersten Verhandlungstag werden die elf Angeklagten nacheinander erstmals angehört. Der Richter wird dann über die Fortdauer der Untersuchungshaft entscheiden. Denkbar ist, dass zumindest die zwei ausländischen Angeklagten, der Deutsche Steudtner und der schwedische Staatsbürger Ali Gharavi, freikommen. Beide waren als Trainer bei dem Seminar engagiert. Für die Unterstützung oder gar die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation sieht das türkische Strafrecht Gefängnisstrafen von siebeneinhalb bis 15 Jahren vor. (Markus Bernath, 25.10.2017)