Lehrplänen fehlt es an Lebendigkeit.

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Der Prozess Bildung, die bewusste Selbstgestaltung von Menschen, vollzieht sich nicht im stillen Kämmerchen, jede/r isoliert für sich, er benötigt einen sozialen Kontext als Quelle von Anregungen und von Orientierung, auch deswegen, weil ein Ziel der Selbstgestaltung soziale Wesen sein sollen. Aus den genannten Gründen gibt es Schule. Es reicht allerdings nicht, ein Gebäude zur Verfügung zu stellen und Personal zur Bildungsbegleitung.

Alle, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler brauchen einen lebendigen Bezug zur Gesellschaft, falls das Unternehmen "Bildung durch Schule" nicht in Abgehobenheit und Isolation abdriften und damit scheitern soll. Den als "Link" zwischen Schule und Gesellschaft vorgesehenen Lehrplänen fehlt aber die Lebendigkeit. Sie sind in einem bürokratischen Stil verfasst, eher als Grundlage für Entscheidungen in Konfliktfällen tauglich denn als Anreger und motivierende Orientierungsmarken.

Gesellschaftspolitisches Grundsatzdokument

Noch gravierender ist, dass Lehrpläne wenig wahrgenommen werden, sowohl in der Schule als auch aufseiten der Gesellschaft. Zur Gesellschaft: Bei genauerem Hinsehen hat ein Lehrplan für Pflichtschüler eine Reihe von weitreichenden Bedeutungen: Er macht Aussagen darüber, was einer Gesellschaft an Wissen und Kompetenzen für die nächste Generation wichtig ist – und damit auch, in welche Richtungen sie sich weiterentwickeln will. Aussagen darüber also, wie man die Gesellschaft in etwa 20 Jahren haben möchte.

Angesichts dieser Bedeutungen kann man, ohne zu übertreiben, in einem Lehrplan ein gesellschaftspolitisches Grundsatzdokument sehen. Dies bedenkend erstaunt es, wie gering das öffentliche Interesse an Lehrplänen ist. Man überlässt ihre Herstellung einigen Ministerialbeamtinnen und -beamten sowie Bildungsexpertinnen und -experten, die in Abgeschiedenheit ihre Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen. (Ich halte die österreichischen Lehrpläne für recht gut und als Ausgangspunkte für das, was ich gleich vorschlagen werde, durchaus geeignet.)

Öffentlicher Bildungsdiskurs

Was wäre die Alternative zum bürokratischen Weg der Verbindung von Schule und Gesellschaft? Die Alternative, oder zumindest eine Ergänzung zum derzeitigen Verfahren, wäre ein öffentlich geführter "Bildungsdiskurs", in dem Fragen wie "Wie soll unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen?" (Anregungen dazu können den Sustainable Development Goals der Unesco entnommen werden) oder "Welches gemeinsame Wissen ist für eine Verständigung in der, zunehmend heterogenen, Gesellschaft erforderlich?" sowie "Was sollten alle können, und wofür brauchen wir Spezialistinnen und Spezialisten?" explizit gestellt werden. (In den Lehrplanverhandlungen, so wie ich sie erlebt habe, werden derartige Grundsatzfragen nur implizit mitverhandelt, es dominieren die Details, meist wird das Bestehende fortgeschrieben.)

Ein immer wieder zu erneuernder Grundsatzdiskurs böte einen stets aktuellen Bezugsrahmen und lebendige Legitimation für die Schule, in der er weiter zu führen wäre, wobei nicht ausgeschlossen werden sollte, dass Vorschläge und neue Argumente aus der Schule kommen. Für den Unterricht förderlich wäre, dass Kontroversen zum Verständnis eines Sachverhaltes besonders hilfreich und motivierend sind. Die Schule würde aus einer Randposition in das Zentrum gesellschaftlichen Geschehens rücken. Zu führen wäre der Diskurs zum Teil mündlich in geeignet inszenierten Veranstaltungen mit medialer Begleitung und zum anderen Teil in moderierten Internetforen. Die Gesamtregie sollte das Bildungsministerium übernehmen. Es sind verschiedene Formate denkbar, aber: In einem Land ohne Bildungsdiskurs gibt es keine Bildung. Allenfalls gibt es gesellschaftlich unwirksame Partikularbildungen. (Roland Fischer, 27.10.2017)