Bild nicht mehr verfügbar.

Die #metoo-Debatte hat auch das Europaparlament erreicht, Abgeordnete zeigten sich betroffen.

Foto: Reuters

Mitte der Achtzigerjahre: Der französische Außenminister, der Sozialist Roland Dumas, besuchte Algier, und sein Botschafter François Scheer hatte in der Residenz ein Pressefrühstück organisiert. Als Korrespondentin von Radio-France International war ich eingeladen, man hatte mich am Tisch links von Herrn Dumas gesetzt, während Herr Scheer rechts saß.

Die Augen meiner mehrheitlich algerischen Kollegen waren alle auf den Minister gerichtet – einen früheren Rechtsanwalt der algerischen Befreiungsfront FLN, intelligent wie charmant und für sein Faible für Frauen bekannt. Und gerade in diesem Moment, mitten im Gespräch über bilaterale Beziehungen, hatte Dumas mit seiner Hand meinen Oberschenkel leicht berührt. In Sekundenschnelle hatte das Alphatier sein Territorium markiert. Diese flüchtige Geste, die Roland Dumas sicher sofort vergessen hatte, wenn er sie überhaupt wahrgenommen hatte, ist niemandem unter den Gästen entgangen – und konnte nur das damals übliche Vorurteil verstärken, dass eine Frau mit einflussreichen Männern "schlafen" müsse, um Karriere zu machen.

Suggestiver Blick

Der Fall Harvey Weinstein zeigt eklatant, wie viele Männer dieser Versuchung nicht widerstehen können. Auch wenn ich das Glück hatte, im Medienmilieu, wo ich seit 35 Jahren tätig war, nie mit solchem Verhalten konfrontiert zu sein, erinnere ich mich noch an einen konservativen Minister der schwarz-blauen Regierung, der mit suggestivem Blick auf "einen Kaffee" in seinem Büro beharrte. Da ich vermutete, dass er nicht nur über Reformen plaudern wollte, hielt ich mich fern.

Der Tsunami des Falls Weinstein zeigt es ganz klar: Kein Beruf, kein politisches Lager ist sicher. Jüngster auf der Liste der Bloßgestellten ist ein französischer Ex-Minister und Europa-Abgeordneter, der Grüne Yves Cochet, Autor namhafter Bücher über die Umwelt: Laut einer früheren Assistentin in Brüssel, die seine E-Mails veröffentlicht hat, wollte er unbedingt mit ihr schlafen. Unter François Hollande hatte der "Fall Denis Baupin" vielen die Augen geöffnet: Als grüner Vizepräsident des Parlaments hat er mehrmals junge Frauen an die Wände der Assemblée nationale gedrängt. Es lag nicht nur an den älteren Generationen eines Dumas (95) oder eines Dominique Strauss-Kahn (68) – einstiger Direktor des IWF, der eine ungarische Expertin seiner Organisation in Washington monatelang verfolgt hat –, die für diesen Zweck ihre überlegene Position missbrauchten. Sondern viel mehr an dem Machtverhältnis, das in der Regel Männer auf Frauen ausüben.

Dieses Verhältnis der Ungleichheit ist das eigentliche Problem und könnte in der digitalisierten Wirtschaft weiterbestehen, wo die Mehrheit der Frauen weiter von den bestbezahlten Jobs ausgeschlossen bleiben wird. Es war schon eindeutig in dem Film Suffragette (2015) von Sarah Gavron, der uns den harten Kampf der englischen Frauen um das Wahlrecht schildert: Die Hauptfigur ist eine einfache Waschfrau, die sich den bürgerlichen Suffragetten anschließt, sobald sie ahnt, dass eine sehr junge Arbeiterin ihres Betriebs sich dem lasziven Werkführer beugen muss – wie es ihr einst ebenso widerfahren ist.

Wertvolle Kultur?

Die kruden Aussagen in Frankreich auf #balancetonporc (#verpfeifdeinschwein) machen zumindest Schluss mit der Mär, wonach "die Amerikaner unverbesserliche Puritaner sind", während wir Franzosen, vor allem unter den Eliten, das Privileg der "Galanterie" hätten, eine wertvolle Kultur der "séduction". Es sei undenkbar, dass Dominique Strauss-Kahn von einem Dienstmädchen in Manhattan eine Fellatio verlangt habe, "weil er mein Freund ist", hat damals in allem Ernst der im Medien- und Verlegermilieu einflussreiche Bernard-Henri Lé vy erklärt. Dasselbe gilt für Roman Polanski: Scharen französischer Intellektueller haben den französisch-polnischen Filmregisseur verteidigt, als die amerikanische Justiz 2007 seine Ausweisung in die USA beantragt hat (weil er sich während seinen wilden Hollywood-Jahren an einem 13-jähriges Mädchen vergangen hatte).

Es wäre ein Fehler zu glauben, dass dieses Schema "Mächtiger Mann missbraucht ein schwaches Opfer" nur Frauen betrifft. In den Gefängnissen, in Europa wie anderswo, müssen zu viele junge Männer "das Gesetz des Stärkeren" erleiden. Was also tun? Strengere Gesetze und öffentlicher Diskurs sind notwendig, werden allerdings nicht genügen. Tausende Jahre haben den Menschen gelehrt, in sexuell aggressiven Situationen den Ausdruck einer stark erotisierenden Macht wahrzunehmen – man mag sich nur an den kulturellen Topos "Entführung der Sabinerinnen" erinnern. Oder an den Erfolg (bei einer weitgehend weiblichen Leserschaft) des Softporno-Romans Fifty Shades of Grey – über eine Jungfrau, die sich in einen SM-Millionär verliebt. Ein wahrlich komplexes Problem.

Schwer beschädigter Sexroboter

Wird man in Zukunft diese nicht mehr tolerierten Ausbrüche befriedigen können, indem man zu Artefakten der Virtual Reality greift, wie es einst "Dirnen" ermöglicht haben, "anständigen Frauen" nicht zu nahe zu treten? Bei der letzten Ars Electronica haben derart viele Männer prüfen wollen, wie Sexroboter Samantha stöhnt, wenn man ihr die Brüste anfasst, dass er nach dem Festival schwer beschädigt war. Samantha war nicht darauf programmiert, dagegen zu protestieren. (Joëlle Stolz, 26.10.2017)