Autor Schulze hat mit Peter Holtz ein Leben zwischen ostdeutscher Sozialisation und westlichen Verheißungen geschaffen.

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STANDARD: Sie haben einen Schelmenroman geschrieben, was gleich im ersten Kapitel, in dem der zwölfjährige Peter Holtz einer überforderten Kellnerin den Unsinn des Geldes im Sozialismus zu erklären versucht (nachdem er köstlich gespeist hat), sehr heiter und erzählerisch treffend klar wird. Was hat Sie an der Idee des Schelmenromans gereizt?

Schulze: Ich wollte an unsere Selbstverständlichkeiten herankommen, an das, was uns täglich lenkt, ohne dass wir darüber noch ein Wort verlieren, sonst wäre es auch nicht selbstverständlich. Peter Holtz ist eine Figur, die stets das Gute will, das Glück für alle. Er glaubt an den Kommunismus, integriert das Christentum und modifiziert ihn dann zum Glauben an den verantwortungsvollen Unternehmer. Indem Peter Holtz die Systeme jeweils beim Wort nimmt – was ja nur jemand kann, der naiv ist und in einer bestimmten Weise gläubig -, konfrontiert er sie mit ihren eigenen Ansprüchen. Das fand ich erhellend.

STANDARD: Peter Holtz hat sicher Vorbilder, wenn man sich die Geschichte des Schelmenromans anschaut. Aber mir scheint, dass der "überheilige und unschuldige" Fürst Myschkin aus Dostojewskis "Der Idiot" einen großen Einfluss auf Ihren Roman gehabt hat.

Schulze: Ja, Der Idiot war ein wichtiger Bezugspunkt und eine Anregung – sowohl die Figur und die Konstellationen, in die sie gerät, als auch das Motiv des Geldverbrennens, das ja schon Dostojewski in Beziehung zur Liebe setzt. Im Grunde ist es auch der Versuch gewesen, noch einmal einen guten Menschen zu zeigen, der in dem, was er tut, auch Unheil anrichtet, aber doch im besten Glauben.

STANDARD: Sie werden auch in Bezug auf den neuen Roman immer noch als "ostdeutscher" Schriftsteller bezeichnet. Aber ist dieses Buch nicht auch eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung Gesamtdeutschlands nach 1989?

Schulze: Wenn das nur mehr so sehen! Man braucht ja die Vergangenheit, um die Gegenwart verstehen zu können. Wenn man aus dem Osten kommt und über seine Vergangenheit schreibt, dann wird das sofort unter "Wendeliteratur" abgebucht. Anfangs dachte ich, dass die erste Hälfte des Buches, also die Zeit bis Ende 1989, eher eine Art Folie ist, vor der die "neue Zeit" deutlicher hervortreten kann. Erst beim Schreiben wurde mir klar, wie viel an utopischen Gedanken unter den realsozialistischen Verkrustungen steckte, wobei utopisch eigentlich falsch ist. Es kommt uns von heute aus gesehen utopisch vor, wenn man mit Freiheit und Demokratie nicht vor der Ökonomie haltmacht.

STANDARD: Warum ist es nicht gelungen, die Utopie einer gerechten Welt vom Ende der DDR mit ins Gesamtdeutschland zu retten?

Schulze: Dafür gibt es viele Gründe. Wir waren 1989 auf so einen gewaltlosen Zusammenbruch des Apparates nicht vorbereitet. Es gab aber einige Wochen, in denen die Vorstellung einer sozialistischen Demokratie Gestalt anzunehmen begann. Nur ist das alles furchtbar anstrengend und im Ausgang ungewiss gewesen, weshalb die Versuchung der D-Mark, also des Beitritts zum Westen, sehr klar war. Dass dies den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft bedeuten würde, war klar erkennbar, aber das hat die Mehrheit ignoriert, also eine demokratische Verdrängung, wenn man so will. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks gewann die Erzählung, dass nun jede Alternative zum westlichen Status quo erledigt sei. Die Sozialdemokratie hat den Sozialismus aufgegeben, statt ihn als Chance zu begreifen und sich dazu zu bekennen, was auch in ihrem Programm steht: ein demokratischer Sozialismus. Stattdessen hat sie in der Figur Schröder den Kniefall vor der Wirtschaft vollzogen.

STANDARD: Das Geld, das sich selbst reproduziert und dabei wenig Gutes schafft, ist ein Leitmotiv des Romans. Sie haben selbst als Unternehmer gearbeitet, mit dem "Altenburger Wochenblatt". Haben Sie da nicht doch einen Sinn für den Sinn des Geldes entwickelt? Und lassen sich mit Geld nicht auch gute Dinge bewirken?

Schulze: Geld ist ja an sich nicht gut oder schlecht. Das Geld verstärkt alles – im Guten wie im Bösen. Zudem haben die Geldströme sich völlig verselbstständigt, sie haben das, was wir Realwirtschaft zu nennen gelernt haben, hinter sich gelassen. Die unvorstellbaren Summen, die täglich um die Welt geschickt werden, bestimmen unser Leben in dem Sinne, dass die Arbeitenden gezwungen werden, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu erwirtschaften. Das ist selbst volkswirtschaftlich gedacht schädlich, erst recht aber ruinös für unser Gemeinwesen.

STANDARD: Peter Holtz ist naiv, wenig reflektiert, ein Holzkopf sozusagen. Ihm widerfahren Dinge. Er stellt sie nicht infrage. Er nimmt den Sozialismus wie auch den Kapitalismus sehr ernst, eckt in beiden Systemen aber mit dieser überzogenen Überzeugtheit an. Er verändert sich nicht in seiner Haltung, macht keine Wandlung durch. Wie schwer war es, diese gewisse Starre der Figur über einen Zeitraum von rund 24 Jahren zu "erzählen"?

Schulze: Peter Holtz ist ein Tor, aber gerade deshalb hellsichtiger als alle anderen. In seiner Grundhaltung wandelt er sich nicht. Aber er ändert immer wieder den Modus oder die Rolle, in der er sein großes Ziel, das Glück für alle, erreichen will. Diese Wandlungen waren für mich interessant. Normalerweise bleiben die Figuren des Picaro-Romans relativ statisch, das ging hier nicht. Für mich war es etwas Lustvolles, so eine Figur durch die Zeiten zu schicken und mit jedem neuen Kapitel zu sehen, wie sie in Schieflage zu den Verhältnissen gerät, weil sie sie ernst nimmt.

STANDARD: Trotz aller Unwirklichkeit, die die Figur des Peter Holtz ausmacht, habe ich mich während der Lektüre gefragt: Ist er ein glücklicher Mensch? Oder nur ein Mensch, der Glück hat? Will er überhaupt Glück? Oder ist er in seinem opportunistischen Gewand nicht einfach nur ein Unglücksengel?

Schulze: Ist er wirklich opportunistisch? Er ist jemand, der keine Angst hat und der in Übereinstimmung mit seiner jeweiligen Umwelt leben will. Als Maurer übernimmt er im Osten baufällige private Mietshäuser, was einem Opfer gleichkommt, weil die wegen der geringen Mieten eine Plage für ihre Besitzer waren. Deshalb wacht er im Westen als mehrfacher Immobilienmillionär auf. Er will sie verschenken, bis an seine Verantwortung als Unternehmer appelliert wird. Sein Glück besteht darin, einen Platz in der Gesellschaft zu haben. Sobald er aber merkt, dass sich seine Bestrebungen ins Gegenteil verkehren, er zwar immer mehr und mehr Geld verdient, aber sich nichts zum Besseren wandelt, versucht er, den Fehler zu beheben.

STANDARD: Der Roman endet pessimistisch. Ist das hoffnungsvolle Versprechen eines Humanismus, das in den Geschichten und Büchern von Ingo Schulze trotz aller Tragikomik durchschimmerte, in den vergangenen Jahren ein wenig auf der Strecke geblieben?

Schulze: Ich weiß nicht, ob das Buch pessimistisch endet. Als Leser kann ich ja von einer Figur lernen. Peter schreitet zur Geldvernichtung, weil er keinen anderen Ausweg mehr zu erkennen vermag, er meint, es ginge alles nur noch mit Privateigentum an Produktionsmitteln. Andererseits beweist er wie schon zuvor seine Konsequenz, weil er begreift, wie schwer es ist, sein Geld mit Anstand loszuwerden. Das klingt zwar erst einmal lächerlich, aber im Grunde hat er recht. Es ist schwer, eine Woche einkaufen zu gehen, ohne eine Schweinerei zu begehen. Das zu konstatieren bedeutet aber nicht, schon kapituliert zu haben. (Ingo Petz, 31.10.2017)