Aufbegehren? Anzeigen? Bessere Gesetze zum Schutz der Betroffenen? Alles Genderwahn, richtet man(n) uns aus.

Foto: APA/AFP/BERTRAND GUAY

Die jetzt, angestoßen durch die Weinstein-Affäre, bekannt gewordenen und mittlerweile unzähligen Fälle sexueller Belästigung und offenbar tagtäglicher Gewalt in Institutionen, einschließlich der "Volksvertretung" (sic!) Europaparlament, werfen ein schockierendes Licht auf unsere patriarchale Gesellschaft und die darin sich trotz Gleichbehandlungs- und Gewaltschutzgesetzen etabliert habende (Arbeits- und Entscheidungs-)Hierarchie.

Kein einziger (!) Fall dieser Belästigungen im Europaparlament wurde in der bereits 2014 extra für Fälle von Mobbing und sexueller Belästigung eingerichteten Anlaufstelle formal verfolgt – obwohl sich, wie nun informell bekannt wird, in den letzten Jahren zahlreiche Frauen an die Stelle gewandt haben. Warum mündete die Erstberatung dann nicht in formale Verfahren? Denn Sanktionsmöglichkeiten gegen die Täter wären in einem solchen durchaus vorgesehen: von der öffentlichen Rüge seitens des Parlamentspräsidenten – derzeit eines Italieners der konservativen Fraktion – über Entzug finanzieller Ressourcen bis zum vorübergehenden Ausschluss aus Plenum und Ausschüssen.

Ungleiche Machtverhältnisse

Dass sich nun Frauen – denn 90 Prozent der bekannt gewordenen Opfer sind Frauen, also ist es eine Geschlechterfrage – nach einem ersten Kontakt mit der zuständigen Anlaufstelle gegen eine weitere Verfolgung entscheiden, hat nachvollziehbare Gründe: Angst der Betroffenen vor öffentlicher Bloßstellung, vor Stigmatisierung, vor der Langwierigkeit solcher Verfahren und dem damit verbundenen psychischen Druck und nicht zuletzt vor dem eigenen Karriereende statt jenes des Täters, vor Verlust von Existenz und Arbeitsplatz.

Was sagt uns das? Es zeigt uns die ungleichen Machtverhältnisse, in denen wir Frauen leben, mit denen wir tagtäglich beruflich zu kämpfen haben, die direkte Folge der Einkommensunterschiede, der gläsernen Decke, der Aufstiegschancen von Frauen, die wir als Feministinnen anprangern und als Frauenpolitikerinnen nicht müde werden in den Parlamenten gegen anhaltenden Widerstand durch Maßnahmen wie Quotenregelungen, existenzsichernde Mindestlöhne, arbeitsrechtlichen Schutz und so weiter zumindest schrittweise zu verbessern.

Hierarchie und Macht(-missbrauch)

Es zeigt uns die Auswirkungen eines neoliberalen Wirtschaftssystems, das auf Hierarchie und Macht(-missbrauch) beruht, auf Arbeitsverträgen mit Hire and Fire, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in im wahrsten Sinn des Wortes brutale Abhängigkeit drängt, sodass sie es sich gefallen lassen (müssen?), dass Chefs vor ihren Augen masturbieren, Kollegen sie im Aufzug tätlich angreifen, das tägliche Knie- und Poklatschen am Arbeitsplatz einfach dazugehört und sexuelle Gefälligkeiten als Preis fürs Dabeibleiben in der Hierarchie eingefordert werden. Aufbegehren? Anzeigen? Bessere Gesetze zum Schutz der Betroffenen? Alles Genderwahn, richtet man(n) uns aus.

Eine parteienübergreifende Frauenallianz im Europaparlament auf Initiative der Grünen hat es nun zwar geschafft, die Mehrheit der Abgeordneten für einen Aktionsplan zur Zero-Tolerance-Politik zu gewinnen – inklusive sofortiger unabhängiger Aufklärung der Fälle. Aber das Problem liegt tiefer. Es liegt im Kapitalismus. Den müssen wir zur Erreichung einer geschlechtergerechten Gesellschaft mit der gleichen Vehemenz loswerden wie das Patriarchat. (Monika Vana, 30.10.2017)