Tummelplatz Müllhalde: Antonio Capuanos schonungsloser Blick auf die Straßenkinder Neapels in "Vito e gli altri".

Foto: Viennale

Schlagersänger am Tiefpunkt seiner Karriere: Toni Servillo in Paolo Sorrentinos Debütfilm "L'uomo in più".

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Es habe einen Film ohne Happy End gesehen, erzählt eines der Straßenkinder aus Vito e gli altri einmal aus dem Off. Der Film habe sich enttäuschenderweise wie das Leben angefühlt, und das heißt: wie ein Haufen Scheiße.

Antonio Capuanos Debütfilm aus dem Jahr 1991 lässt sich schwer kategorisieren, aber wenn er schon aus dem Land kommt, in dem der Neorealismus erfunden wurde, ließe sich womöglich von einem Postrealismus sprechen. Wie bei der Nachkriegsbewegung sind es Kinder, die die Perspektive vorgeben. Statt Fahrrädern klaut man Autoradios. Vito, der gleich zu Beginn aus einem Amoklauf seines Vaters als einziger Überlebender hervorgeht, gerät auf die schiefe Bahn: Diebstahl, Bandenwesen, Drogensucht, Prostitution, Gefängnis.

Wo der Neorealismus eine fehlerhafte Welt sozialer Gegebenheiten noch mit empathischem Blick zu ergründen versuchte, stellt sie sich in Vito e gli altri als vollkommen aus den Fugen geratene Wildnis dar. Die Gewaltspirale dreht sich schon deshalb weiter, weil nur sie das Überleben zu sichern scheint. Die Straßenkinder Neapels, die Capuano bei Streifzügen durch die Stadt in modellhaften Szenen zeigt, imitieren die Verhaltenscodes ihrer Väter oder orientieren sich an den brachialen Mustern der Camorra.

"Mama" hat ausgedient

Die Familien selbst bieten keinen Schutz mehr, sie sind nur noch leere Hüllen, auch das Band zwischen den Generationen scheint gekappt: "Mama" habe ausgedient, wie es ein Junge einmal sagt, der Handel mit Drogen biete den besseren Halt. Nur die Fernseher laufen unaufhörlich in den Zimmern weiter: Auszüge von Seifenopern und Computerspielen drängen sich immer wieder in den Bildvordergrund, konterkarieren mitunter auch nur akustisch das Geschehen.

Was Vito e gli altri für das Viennale-Special Napoli! Napoli! Die Entstehung des Neuen neapolitanischen Kinos so signalhaft erscheinen lässt, ist die Kompromisslosigkeit, mit der Capuano jeder Verklärung süditalienischer Lebensqualität den Kampf ansagt. Ohne sich in Kulturpessimismus zu verlieren – dafür ist der Film bei aller Schonungslosigkeit in der Darstellung zu analytisch -, zeigt er, wie man sich im Neapel der späten 1980er nur noch mit verzweifelter Vitalität zu helfen weiß; war diese vormals Teil pittoresker Alltagskultur, ist sie hier zum nackten Leben verkümmert.

Die Kuratorin des Programms, Maria Giovanna Vagenas, macht den zumindest filmischen Aufbruch an einem neuen Filmfördergesetz fest, das einer jungen Generation von Filmemachern die Grundlage für ein sozial gepoltes, aber ästhetisch durchaus mannigfaltiges Autorenkino bot – neben Capuano sind das etwa Mario Martone, von denen jeweils zwei Filme zu sehen sind, aber auch Vincenzo Marra und der spätere Starregisseur Paolo Sorrentino. Die Stadt selbst laborierte an den Folgen des verheerenden Erdbebens von 1980, von dem am Ende nur die Camorra profitierte. Die strukturschwache Region wurde aufgerieben zwischen Deindustrialisierung, Vetternwirtschaft und sozialen Umwälzungen.

Stolpern über Sex und Melancholie

Capuanos hybrider Realismus, der die Unmöglichkeit verdeutlicht, diese Zusammenhänge mehr als schlaglichtartig zu vermitteln, findet in Sorrentinos Debüt L'uomo in più (2001) ein poppiges Echo. Der Film lässt zwei Figuren fast gleichlautenden Namens, den in die Jahre gekommenen Italo-Schlagerstar Toni (Toni Servillo) und den Fußballer Antonio (Andrea Renzi), der eine zweite Karriere als Trainer anstrebt, mit dem eigenen Scheitern ringen. Der Sänger stolpert über eine Sexaffäre mit einer Minderjährigen, der Fußballer über seine melancholische Natur, mehr noch über die Ignoranz des Verbandes.

Obwohl Sorrentino wie später in La grande bellezza bereits seine Neigung zur großen Geste erkennen lässt, ist seine parabelhafte Erzählung über zwei Verlierer organisch mit dem Gewebe der Stadt verwachsen. Toni wird gerade aufgrund seiner Dekadenz zur idealen Verkörperung einer fortschreitenden Verlotterung, die sich nicht verbergen und nicht mehr kurieren lässt. Sein Traum eines eigenen Restaurants ist ein Hirngespinst wie jeder Sonnenuntergang über dem Golf. Dennoch attestiert ihm Sorrentino einen großen Überlebenswillen, der etwas genuin Neapolitanisches an sich hat – die Fähigkeit, sich auch unter widrigen Umständen noch zu freuen.

Eine weibliche Variation darauf bietet L'amore molesto nach einem Roman von Elena Ferrante. Mario Martone erzählt von einer Rückgewinnung Neapels über den Zugriff auf eine verschüttete Erinnerung. Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Delia (Anna Bonaiuto) in die Stadt ihrer Kindheit zurück, um sich der Verblichenen im roten Kleid immer mehr anzuverwandeln. Zwischen der honigfarbenen Vergangenheit und der mysteriös-kantigen Gegenwart gilt es einige Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Martone macht klar, dass die Stadt selbst ihren Anteil an den Geschichten hat, aber auch ungeahnte Schlupflöcher und Freiräume bietet: Die Frauen mögen hier kürzere Rocken tragen, sie lassen sich aber nicht in die Karten schauen. (Dominik Kamalzadeh, 28.10.2017)