Ilse Helbich: "Bisher habe ich geschrieben, weil ich schreiben musste. Nur bin ich jetzt zu faul zum Schreiben."

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Ilse Helbich: "Der Tod ist für mich aber doch auch schon mit einem zu erahnenden sehr schönen Gefühl verbunden."

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Ilse Helbich, "Im Gehen", Gedichte. € 18/72 Seiten, Droschl, Graz 2017.

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Nadine Kegele, geb. 1980 in Vorarlberg, ist freie Schriftstellerin sowie Basisbildungstrainerin für geflüchtete Erwachsene.

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"Ein kurzes Gedicht sei zu lang für das Leben. Eine lange Erzählung sei nicht so lang", schreibt der Autor Peter Waterhouse in Die Auswandernden. 72 Seiten hat Ilse Helbichs erster Gedichtband, also genug für viele lange Leben, wie das der Autorin eines ist. Wer die Gedichte in Im Gehen liest, wird mit "Flügelspitzen der Arme" beschenkt, dringt ein durch ein Gitter hinter den "Harnisch der Wörter", überlegt, ob das eigene Bett wirklich dort steht, wo man es möchte, und weiß Lehrjahre zu spät, wie man die Antagonistinnen kindlicher Feindschaften angemessen hätte verwünschen können. Helbich spricht über Krieg und Frieden, über Körper und Verlust und nicht zuletzt: über Leben und Tod.

STANDARD: Frau Helbich, stimmt die Nachbemerkung in "Im Gehen": "Es ist gesagt, was zu sagen war. Das Andere, das jetzt ist, entzieht sich den Worten. Tief innen ist jetzt eine Melodie, die sich dem Nachsingen versagt"?

Helbich: Die stimmt.

STANDARD: Sie klingt, als hätten Sie vor, kein Buch mehr zu schreiben?

Helbich: Das habe ich vor. Bumm, aus! Es klingt furchtbar blöd, aber bisher habe ich geschrieben, weil ich schreiben musste. Nur bin ich jetzt zu faul zum Schreiben. Ich arbeite ja sehr kompliziert. Ich schreibe blind, mit der Hand meistens, früher mit einer nichtelektrischen Schreibmaschine. In Wien habe ich eine Schreibkraft, die meine Fitzelei lesen kann. Die schickt mir das als Computerausdruck zurück. Dann kommt die Vorleserin, und ich korrigiere vom Hörensagen, mehrmals.

STANDARD: Das erinnert an die Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier.

Helbich: Hat die so gearbeitet?

STANDARD: Im Alter ähnlich.

Helbich: Ich hätte ihre Übersetzungen so gerne als Hörbuch. Meine Buchhändlerin kann mir alles besorgen, aber das gibt es nicht.

STANDARD: Sie haben mit 80 Ihr erstes Buch veröffentlicht. Das wird meist lobend erwähnt. Ist das nicht eher eine wohlwollende Art, Alter zu diskriminieren? Quasi: Mit 80 macht man doch nichts mehr ...

Helbich: Das g'hört sich doch nicht ... Ja, das ist es durchaus. An meinem 80. Geburtstag habe ich meinen Kindern klopfenden Herzens mein erstes Buch, Schwalbenschrift, verteilt. Ich habe eine furchtbare Nachkriegsgeschichte, mit Russen und so weiter, und ich dachte: Wie werden meine Kinder reagieren? Sie haben wenig von meiner Biografie gewusst.

STANDARD: Wie haben sie reagiert?

Helbich: Es hat zu einer unausgesprochen tieferen Beziehung geführt.

STANDARD: In einem Vortrag beim Österreichischen Frauenrat haben Sie von zwei Kindern in der Muehl-Kommune gesprochen, was mich an Ihre Erzählung "Der verlorene Sohn" erinnert.

Helbich: Ja, das ist genau die Geschichte, umgemodelt natürlich. Sie waren 15 Jahre dabei. Ich habe die Kommune ja verstanden, solange sie anarchistisch war, aber sie ist auf eine radikale Lebensform zugesteuert, diktatorisch, Otto Muehl war der Herrscher und Übervater, der wie im Alten Testament die sexuellen Rechte über die Kinder hatte. Die Leute haben eine Nummer bekommen, nach ihrer Stellung zu Muehl, nach ihrer geschäftlichen Leistungsfähigkeit. Mein damals dreijähriger Enkel war in der Hierarchie ganz unten, weil meine Tochter ganz unten war. Und wenn ein Kind Muehls Sohn Attila, die Nummer eins, auch nur geboxt hat, wurde dieses Kind in der abendlichen Selbstdarstellungsgruppe streng bestraft.

STANDARD: Sie haben nie den Kontakt abgebrochen, weil Ihnen alles zu viel wurde?

Helbich: Nein, ich bin immer wieder hin, zuerst in die Praterstraße, nachher auf den Friedrichshof. Obwohl es sehr anstrengend war. Mein Mann hat eher Angst gehabt, dass es berufliche Folgen für ihn haben könnte in seiner offiziellen Position, und hat sich rausgehalten. Später haben die Kinder zu mir gesagt, dass ich in diese hermetisch abgeschlossene Welt, in diese kasernierte Zeit wie ein Fremdkörper hineingeplatzt bin. Natürlich haben sie sich über diese Störung geärgert, gleichzeitig haben sie gesehen, dass es eine Außenwelt gibt.

STANDARD: Sie sind eine treue Mutter.

Helbich: Aber ich habe protestiert, wenn dann kam, was auch in der Nazi-Zeit zurückgespielt wurde: Ich kann ja nichts dafür, ich bin verführt worden ... Nein, das kann man nicht wegleugnen und wegschieben! Ich habe aber bemerkt, dass diese Art Leben für die Kommunarden eine ungeheure Faszination gehabt hat.

STANDARD: Sie waren nie verführt?

Helbich: Nein, ich habe das gehasst und sogar versucht, mit der Staatspolizei vorzugehen. Die Muehl-Kommune bedeutet bis heute für mich eine ungelöste Frage. Sie können das gerne zur Sprache bringen. Lange habe ich mich zurückgehalten, aber man muss darüber reden.

STANDARD: Es zur Sprache bringen.

Helbich: Wie bei den Sprechverboten nach dem Nationalsozialismus, das war ein Thema für mich in den Schmelzungen. In Dresden ist einmal ein Theaterstück von mir gelaufen. Im Taxi hat meine Enkelin den Fahrer gefragt: Denken Sie eigentlich noch an den 13. Februar 1945? Da war dieses ungeheure Feuer, die Bombardierung einer unbefestigten Rotkreuz-Stadt. Kurt Vonnegut hat darüber geschrieben in Schlachthof 5. Dieses Feuer war wie ein Sturm. Verbrühte Leichen sind herumgeschwommen, Menschen sind zu Puppen verschmort. (längere Pause) Der Taxifahrer hat meiner Enkelin geantwortet: Wir müssen ja dran denken – wenn wir in unseren Schrebergärten einen Meter tief graben, sind da nichts als Skelette. Da ist mir plötzlich etwas eingegangen. Nach dem Krieg haben die Leute zuerst normal geredet: "Mein Mann ist im Osten vermisst", und so weiter. Dann kam dieser ungeheure Schock, wo die Amerikaner die Auschwitz-Bilder publiziert und die Deutschen gezwungen haben hinzuschauen. Ab dem Moment gab es Redeverbot.

STANDARD: Es wurde nicht mehr geredet?

Helbich: Nein. Mit der großen Schuld des deutschen Volkes, das zugeschaut oder geduldet hat und das nicht darüber redete, wurden Befindlichkeiten zugedeckt. Da gibt es eine Parallele: Jüdische Nachkommen erzählen auch oft von schweigenden Eltern und Großeltern, darüber, was das für Depressionen in ihnen hervorruft. Das Schweigen ist auf beiden Seiten. Mir ist es immer auch um die Frage gegangen, wie man zurechtkommt mit so einem Schuldgefühl und dieser Strafe. Nicht sprechen dürfen ist nämlich eine Strafe. Da gibt es ein großes unaufgearbeitetes Gebiet. Für meine Kinder war es lange unglaublich, dass dort, wo sie zu Hause sind, wo es friedlich ist, in der Vergangenheit Krieg war. Meine Buben haben mich einmal gefragt – sie waren vielleicht 14 und 16: "War in Wien auch Krieg?" Ich habe gesagt: "Na, ihr müsst doch nur auf der Grinzinger Allee die Panzereinschläge an den Hausfassaden anschauen." Dann haben sie gefragt: "Sind auch Tote gelegen?" Plötzlich habe ich geredet: "Ja natürlich, wir sind über die Leichen von der deutschen Seite noch tagelang weggestiegen, wenn wir auf die Straße mussten, zum Beispiel Wasser holen." Plötzlich der Jüngere: "Du lügst!" Da habe ich blitzartig gemerkt, diese blutige Wahrheit geht in diese Friedensköpfe einfach nicht hinein, und von da an nie mehr darüber geredet.

STANDARD: In meinem letzten Buch sagt eine, die in den 70ern aus den USA nach Österreich gezogen war, dass eine der ersten Redewendungen, die sie auf Deutsch gelernt hat, "bis zur Vergasung" war.

Helbich: Das gab es lange vorm Hitler. Das hatte seinen Ursprung darin, dass Wien eine verlauste, verwanzte Stadt war. Dann sind die Kammerjäger gekommen und haben die Wohnungen von Staats wegen vergast. Schon als Kinder haben wir immer gesagt: "Heut hab ich Mathe gelernt bis zur Vergasung." So etwas rutscht mir jetzt natürlich nicht mehr heraus. Die Erinnerung an die andere "Vergasung" ist stärker. Solche Doppeldeutigen gibt es viele, manchen Ursprung kenne ich noch.

STANDARD: Was fällt Ihnen noch ein?

Helbich: Das hat jetzt nichts damit zu tun, aber es gab vor langer Zeit noch strenge Trauerrituale. Ganz in Schwarz gekleidete Frauen, die so auf die Straße gingen, um ihre Trauer zu demonstrieren. Beim Tod ihrer Mutter hat meine Mutter nicht geweint, dazu hätte sie auch gar keinen Grund gefunden, aber sie hat das Trauerritual, das sich gehörte, mitgemacht. Meine Mutter hat ihr Benehmen dem jeweiligen Trauerzustand angepasst. Sie hat während des Trauerjahres nicht geschimpft, weil sich das einfach nicht gehörte.

STANDARD: In vielen Ihrer Bücher haben Sie sich ausgiebig mit dem Alter und dem Tod beschäftigt.

Helbich: Mich interessiert dieser Zwischenbereich, wo man so alt ist, dass man nicht mehr weiß, ob man noch in dieser Welt oder schon halb drüben ist. Und die wechselnden Körpererfahrungen. Man muss ja mit einem Körper, der einen im Stich lässt, umgehen. Früher hatte ich immer das Gefühl, mein Körper gehorcht mir, ich kann hüpfen, ich kann Berge besteigen und über die Donau schwimmen. Jetzt ist der Körper ein Partner, der mich verlässt, der mich zum Beispiel zwingt, schwindelig zu sein. Was macht man jetzt? Den Körper überwinden? Wegschauen? Sich eine Superwelt bauen, wo der Körper belanglos ist? Ich habe keine Antwort darauf. Ich habe überhaupt wenige Antworten.

STANDARD: Wenn wir uns den Körper als Protagonisten vorstellen, wäre es dann möglich, Mitleid mit ihm zu empfinden oder Empathie, also damit, dass er etwas nicht mehr geben kann? Oder ist die Verlustangst, die -trauer größer?

Helbich: Lange habe ich das als ungeheuren Verlust empfunden. Vor allem dort, wo der körperliche Zustand in geistige Bereiche eingreift. Ich verliere mittlerweile viele Namen. Wenn ich mich nun mit jemandem über Giordano Bruno unterhalten will und zuvor mühsam beschreiben muss, wen ich meine, weil mir der Name nicht einfällt, bin ich wie abgeschnitten. Das ist altersbedingt.

STANDARD: In "Grenzland Zwischenland" beschreiben Sie das Altern wie ein Forschungsobjekt. Sie haben sogar das Wort "faszinierend" verwendet. Daran muss ich denken, wenn ich die Bäume in Ihrem Garten sehe: dass Sie, wo Menschen stehen, mit Ihrer altersbedingten Art, zu sehen, Bäume sehen.

Helbich: Jetzt zum Beispiel sehe ich Ihr Gesicht, weil Sie so nah sitzen. Wenn Sie auf dem Stuhl dort sitzen würden, sehe ich Ihr Gesicht nur, wenn die Sonne hereinscheint oder Sie sich bewegen. Dann sehe ich es ganz plötzlich.

STANDARD: Wie eine Erscheinung?

Helbich: Ja, und dann erschrecke ich. Dabei habe ich noch Glück, ich kann immer noch Konturen sehen. Natürlich sehe ich manche Sachen anders als junge Menschen, aber wahrscheinlich sehe ich sogar sehr schön.

STANDARD: Eine Zeile in Ihrem Gedichtband heißt: "Ich möchte nicht sterben".

Helbich: Das ist das Gedicht, wo die Sonne ins Zimmer scheint und alles auslöscht.

STANDARD: "Auf Sonne treten / Versinken im Licht".

Helbich: Dieses Zerfließen in etwas Größerem, und dann dieses kreatürliche Sich-Wehren. Ich lebe sehr gern, ich lebe mit Leidenschaft, ja? Ich möchte nicht sterben. Umgekehrt ist der Tod für mich aber doch auch schon mit einem zu erahnenden sehr schönen Gefühl verbunden. Da gibt's ein Gedicht von Kabir, einem indischen Weber, der im 15. Jahrhundert lebte, von dem man nicht weiß, ob er ein Hindu war oder ein Muslim. Er beschreibt die Erfahrung in einer anderen Wirklichkeit, eine an sich mystische Erfahrung: "As the river gives itself into the water of the ocean", also das freiwillige Sich-Hingeben und Verschmelzen, "what is inside me moves inside you", also ein Eingebettetsein, das die Kategorien Leben und Sterben ausschließt, das natürlich ist.

STANDARD: Ich war lange ziemlich vorbehaltlos für die aktive Sterbehilfe, weil sich zu suizidieren viel Mut erfordert, nehme ich an.

Helbich: Es setzt sicher eine Auseinandersetzung voraus, ja.

STANDARD: Irgendwann ist zu mir durchgedrungen, dass das Sterbenkönnen auf diese Art aber auch ein ungeheurer Druck auf alte Menschen wäre, die ihrer Familie in einer Pflegesituation nicht auf der Tasche liegen wollen. Seitdem bin ich im Dilemma.

Helbich: Der soziale Druck muss bedrohlich sein. Eine Enkelin von mir arbeitet seit Jahren ehrenamtlich auf der Palliativstation. Dort sind Leute, die austherapiert sind. Man gibt ihnen noch Sauerstoff oder Schmerzmittel. Selten sind da Menschen, die sagen, sie wollen sterben. Die meisten sind mit ihrem Weggehen einverstanden, auf eine teilweise nicht ausgesprochene Art. Und sie sind dankbar, dass man sie in Ruhe lässt.

STANDARD: Ist es ein Geschenk, dass Sie so alt werden konnten?

Helbich: Ein Geschenk des Himmels! Für das ich nichts dafür kann – und auch nichts dagegen.

STANDARD: Sie wären es nicht, würden Sie das Folgende bejahen: Sind Sie alt und weise?

Helbich: Ich spüre gar nix. Aber viele sagen mir, ich hätte (aber ganz ohne Weisheit) eine ruhige, gelassene Ausstrahlung.

STANDARD: Was, denken Sie, hätten Sie versäumt, wären Sie nicht so alt geworden?

Helbich: Eine sehr schöne neue Freundschaft. Viele Nahebeziehungen. Das Meditieren in einer buddhistischen, aber sehr individualisierten Art. Ein großes Gefühl von ruhiger Heiterkeit. Das alles hätte ich versäumt. Ich glaube, ich bin heute in einem Zustand, wo ich gerne sterben könnte.

STANDARD: Sie haben einmal geschrieben, dass das Alter der erste Tod ist und das Sterben der zweite. Das klingt, als wäre Angst vorm Tod nicht nötig.

Helbich: Natürlich kann Angst da sein vor der Todesart, man weiß ja nicht, wie schmerzvoll es werden wird. Unabhängig davon, was passieren wird, ob man brüllt vor Schmerzen, weil sie nicht auszuhalten sind, glaube ich, dass der Tod ein dem Leben nicht entgegengesetzter Zustand ist.

STANDARD: Sondern einer, der zum Leben dazugehört?

Helbich: Einer, den ich mir nicht vorstellen kann, aber der dazugehört, ja. Gestern habe ich mit meinem alten Verleger gesprochen, er wohnt in Konstanz. Er hat mir von einem Gespräch mit seiner verstorbenen Mutter erzählt. Wie sie gerade noch da war, fragt er sie: "Mutter, wie stellst du dir dein Sterben vor?" Sie sagt: "Ich werde schweben, nicht wie ein Engel, eher wie ein Vogel, und ich werde von oben noch einmal Konstanz und den Bodensee sehen." Mein Verleger fragt: "Und dann?" Sie: "Dann weiß ich nicht." (lacht) Dann weiß ich nicht ... (Nadine Kegele, 28.10.2017)