Montag, den 18. September 2017 wird die Polizei gegen acht Uhr früh zu einem heftigen Streit im Innenhof einer Wohnhausanlage in Wien-Favoriten gerufen. Sie findet eine durch Messerstiche getötete junge Frau. Der Täter, ihr Bruder, stellt sich wenig später.

Foto: Felix Grütsch

Ein Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es ist schwarz-weiß, körnig, flau, ein Standbild aus einer Überwachungskamera. Eine sehr junge, zarte Frau, halb Mädchen noch, steht auf einer Rolltreppe. Sie trägt ein langes islamisches Kleid, ähnlich einer Nonnenkutte. Der Kopf ist ganz mit einem schwarzen Tuch verhüllt, das Haare, Ohren und der Hals vollständig bis zum Kinn bedeckt. (Hijab nennt sich so ein Ding.) Die rechte Hand hat sie auf den Lauf der Rolltreppe gelegt, als müsse sie sich abstützen, weil sie zu fallen fürchtet. Den Blick niedergeschlagen, wie man es bei muslimischen Frauen oft sieht.

Tod im Gemeindebau

Ob sie weint? Jedenfalls bilde ich mir ein, dass sie Angst hat. Namenlose, unaussprechbare Angst. Denn halblinks hinter ihr steht breitbeinig ein Typ, die Hände in der Hosentasche. Seinen Gesichtsausdruck würde ich brutal nennen. Er stiert vor sich hin, hat dabei doch stets das Mädchen eine Stufe über ihm im Auge. Irgendwo, versteckt, trägt er ein Messer, zwanzig Zentimeter lang. Es ist der Bruder des Mädchens. Und in ein paar Minuten wird er im Hof eines Gemeindebaus, einige hundert Meter entfernt, ein Dutzend Mal oder öfter auf seine schutzlose, wehrlose Schwester einstechen.

Es sei gut, dass sie tot sei, wird er später auf der Polizei aussagen, denn sie habe die Ehre der Familie beschmutzt. Und er wird behaupten, im Affekt gehandelt zu haben. Dass er seine Schwester nur habe überreden wollen, zu den Eltern zurückzukehren. Und dass diese dann ihm gegenüber "respektlos" geworden sei. Deshalb habe er in seiner Wut das Messer gezogen. Indizien, soweit sie in den Zeitungen dargelegt werden, sprechen dafür, dass die Tat geplant war. Aber über diese und andere offene Fragen wird das Gericht entscheiden.

Unter Druck gesetzt

Der Fall ist bekannt. Bakhti, 14 Jahre alt (oder wohl ein wenig älter), wollte sich aus der engen Umklammerung ihrer streng religiösen afghanischen Familie befreien, wollte mit Freundinnen beisammen sein, sich schminken, tanzen gehen, Burschen ihres Alters treffen. Wollte nicht, wie (angeblich) zwei ihrer Schwestern, zwangsweise nach Pakistan verheiratet werden. So wurde sie geschlagen, eingesperrt, überwacht, durfte nicht alleine außer Haus. Ende Juni schon floh sie in ein Krisenzentrum, erstattete Anzeige gegen den Vater und ebenjenen Bruder. Bakhti wies damals Verletzungen an den Armen und im Gesicht auf. Aber ihre Familie scheint sie unter Druck gesetzt zu haben. Bald widerrief sie alles, ging wieder nach Hause, zurück in ihr Gefängnis. Im September dasselbe noch einmal. Diesmal blieb Bakhti ein paar Tage im Krisenzentrum, bis zu jenem Montagmorgen, an dem sie zur Schule wollte und in der U-Bahn Reumannplatz auf ihren Bruder stieß, zufällig oder nicht.

Wenige Tage nach der Tat war ich dort. Bin von der U-Bahn-Rolltreppe, auf der Bakhti mit ihrem Bruder im Rücken hochfuhr, zur Puchsbaumgasse gegangen. So wie Bakhti diesen Weg gegangen sein muss, immer den Bruder neben sich. Ein enges Gässchen, Zinshäuser aus der Gründerzeit, graue Fassaden, alles ein wenig schäbig. Hier wohnen keine Reichen, das sieht man. Der Migrantenanteil ist enorm hoch, selbst für Favoritner Begriffe. Schräg gegenüber dem Haus, in dem Bakhti starb, hatte jemand mit einer Schnur zwei in Cellophan verpackte Blumensträuße an einen Baum gebunden. Eine rührende Geste. Das war vor einem Monat, mittlerweile sind die Blumen bestimmt schon längst verdorrt.

Oft und viel wird demonstriert in unserem Land, Anfang Oktober zum Beispiel gegen das gerade in Kraft getretene gesetzliche Verhüllungsverbot. Mit subversivem Witz – wenn man es so nennen will – trat man für ein sehr spezielles Recht von Frauen ein. Für ihr Recht nämlich, mit einem Sack über dem Kopf oder einem Fetzen vor dem Gesicht in der Öffentlichkeit herumlaufen zu dürfen. (Wie ich überzeugt bin: zu müssen.)

Wo sind die Demos?

Wo waren jene Demonstranten im Fall Bakhti? Wo bleibt da der empörte Aufschrei der sogenannten Zivilgesellschaft im Fall des Mädchens, das nichts als ein Stück Freiheit wollte, Selbstbestimmung, mit Freundinnen ausgehen, einen Freund haben, unbeschwert sein, jung sein – und nicht in der tristen Wohnung eingesperrt herumsitzen und warten, bis der Vater einen an irgendeinen unbekannten Mann verschachert.

Hunderten, vielleicht tausenden Mädchen geht es ähnlich. Das geschieht nicht irgendwo, sondern es geschieht hier: in diesem Land, in dieser Stadt. Bakhtis Geschichte ist exemplarisch, beileibe kein Einzel-, kein Sonderfall. Wieso werden keine Protestmärsche für sie abgehalten? Wieso keine Mahnwachen? Wieso kein Berg von Blumen, von Kerzen für Bakhti?

Ein guter Ort dafür wäre der Reumannplatz gewesen, im Zentrum jener Parallelgesellschaft, die all das – Kopftücher für kleine Mädchen, Burka und Nikab für Frauen, Zwangsheiraten, Ehrenmorde, ein rückwärtsgewandtes, mittelalterliches Frauen- und Familienbild – hervorbringt. Nichts, niemand, kein Ohrwaschl hat sich gerührt. Mit Gruseln hat man reißerische Berichte in Gratisblättern überflogen: Ein Mord, das kommt vor, leider. Und hat sich weiter über das Verhüllungsverbot echauffiert.

In Zeiten der Weinstein-Affäre posten Frauen auf Facebook unter dem Hashtag #MeToo gegen Sexismus und männliche Gewalt. Gut und richtig. Das Unrecht gehört beim Namen genannt, gehört hinausgeschrien in alle Welt. Aber wer, frage ich mich, benützt das Hashtag #Bakhti? Wieso meint man, für das Recht von Frauen auf ein "Gefängnis aus Stoff" (NZZ) streiten zu müssen? Und wieso, verdammt, kämpft man nicht ebenso vehement für das Recht von muslimischen Frauen auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Kopftuch, Ganzkörperverhüllung und Zwangsverheiratung? (Kurt Bauer, 27.10.2017)