Bernhard Günther: "Das Programm des Festivals muss natürlich meinen Geschmack überschreiten."

Foto: Wien Modern

Wien – Ja , es habe "Featback" gegeben, "nein, ich bin – nach meinem ersten Jahr bei Wien Modern – nicht beschimpft worden, überhaupt nicht", sagt Programmmacher Bernhard Günther. "Eher wurde ich mit Dank überhäuft. Klingt zwar blöd, war aber so. Natürlich waren auch Fragen dabei, was denn manches soll. Was in Berlin kalter Kaffee ist, ist in Wien halt teilweise ungewohnt – aber das wird auch umgekehrt gelten."

Ab Dienstag trachtet Günther, in seiner zweiten Festivalrunde weiter Ungewohntes zu servieren; er bindet unter dem Motto "Bilder im Kopf" Klassiker an Zeitgenössisches: "Das Programm muss meinen Geschmack überschreiten. Ein Festival sollte einen größeren Horizont haben als die Programmverantwortlichen. Das impliziert, dass ich selbst überrascht werden möchte. Und nicht nur positiv – es muss auch etwas nicht gelingen können. Ich habe aber eh einen eklektischen Geschmack."

Im Unterschied zu den Festivalanfängen vor 30 Jahren sei "das 2017 ein Vorteil, wenn man es bunt mag", so Günther. Früher wäre es "mehr um die Vormachtstellung einer Strömung" gegangen, "Das ist nun anders. Claudio Abbado, dem wir mit dem Konzert posthum einen kleinen Blumenstrauß überreichen, stand aber natürlich für Offenheit." Im Jubiläumsjahr wage man sich "an ungewöhnlich viele Großprojekte, die vielleicht eher von Salzburg erwartet würden. Der alte Traum des Festivalgründers Abbado, diese Musik gehöre in große Säle: Wir wollen sehen, was das 2017 heißt. Zum Ausgleich gibt es auch Dinge am Stadtrand, in einem Wirtshaus auf der Schmelz, in Alt-Erlaa oder im Prater, mitten im Wald, also kleine, bunte Projekte."

"Groß denken"

Für ein Fest zum 30er "wollen wir aber schon auch groß denken", mit Henzes Oratorium Das Floß der Medusa etwa: "Es war 1968 einer der größten Skandale der Musikgeschichte. Die Uraufführung platzte, weil der Chor nicht unter der roten Fahne singen wollte. Wir eröffnen damit und stellen knapp 120 Chorsänger, Starsolisten und ein Riesenorchester mit 15 Schlagzeugern auf die Bühne."

Das sei ein Signal: "Der Festspielausnahmezustand, den wir erzeugen wollen, soll sich auch in großen Projekten ausdrücken, die ganz klar nicht nur Spezialisten ansprechen. Da reihe ich auch Burning Bright ein, wo der Pariser Komponist Hugues Dufourt auf den Starbühnenbildner Enrico Bagnoli trifft, aber auch das Abbado Konzert, Peter Eötvös mit dem Klangforum Wien, Les Espaces acoustiques im Konzerthaus und Olga Neuwirth im Museumsquartier." Zum Start gibt es ein "Juwel der Filmgeschichte, die Österreich-Premiere der neu restaurierten Fassung des Filmklassikers J'accuse". Er wurde 1918 im Ersten Weltkrieg mit echten Soldaten bei Verdun gedreht: "Man sieht, wie es auf den Schlachtfeldern ausgesehen hat. Der Regisseur lässt eine Zombiearmee auferstehen. Die Toten erzählen den Lebenden, dass der Wahnsinn des Krieges so nicht weitergeht."

Keine politischen Sorgen

Zu kämpfen gilt es für Günther um die finanziellen Rahmenbedingungen: "Wien Modern gehört zu den Besonderheiten der Stadt, zu den Kronjuwelen, welche die öffentliche Hand mit ermöglicht. Ich bin nicht sehr in Sorge wegen der neuen politischen Konstellation im Bund. Wir haben ohnedies eine extrem schlanke Infrastruktur, und das Festival existiert nur dank Synergien mit dem Wiener Konzerthaus. Mein mittelfristiges Großprojekt besteht aber darin, das Budget in eine international übliche Dimension zu heben. Wir sind krass unterdotiert, haben mit mehr als 30 Spieltagen ein kleineres Budget als die Donaueschinger Musiktage – für drei Tage."

Mit der Stadt Wien "gibt es einen Dreijahresvertrag, der im Vorjahr um 50.000 auf jährlich 650.000 runtergekürzt wurde. Der Bund hat heuer um 13 Prozent auf 120.000 erhöht, und er bessert in den kommenden beiden Jahren jeweils noch um 5000 nach. Die Sponsoren geben mehr, Kapsch und Erste Bank, der SKE-Fonds steigt ein. Ich werte das als Folge unseres Erfolges." Man könne natürlich nicht warten, bis die Bedingungen besser werden. Für Günther bleibt "spannend und dringlich, die utopische Breite des Publikums und dieser Kunstform zu zelebrieren. Das Festival zu verkleinern, wäre ein Verrat an der Gründungsidee Abbados. Es soll große Formate in großen Häusern geben. Es muss aber auch das Experimentelle gezeigt werden."

Nur die Länge und Konzeptbreite des Festivals würden es ermöglichen, "die hiesige freie Szene einigermaßen zu berücksichtigen. Wien Modern darf sich nicht auf internationalen, marktgängigen Hochglanz zurückziehen. Es muss auch eine Szeneplattform sein." Also auch lebendig. (Ljubisa Tosic, 29.10.2017)