Der Pianist Leif Ove Andsnes.

Foto: Özgür Albayrak

Wien – Irgendetwas hat es mit der Zahl 24. Da wären 24 Préludes oder 24 Präludien und Fugen, sei es von Chopin, Schostakowitsch, Schtschedrin oder Bach. Und ebenso viele Klavierstücke von Jean Sibelius sind auf der neuen CD von Leif Ove Andsnes zu finden. Dies wäre "aber purer Zufall" gewesen, so der norwegische Pianist betont heiter, er habe "nicht gezählt". Es ginge einfach darum, "die grandiose Melodik von Sibelius" zu zeigen: "Da gibt es kein Theater, keine Staffage." Dirigent Simon Rattle habe einmal gemeint, Sibelius' Symphonien seien "eine Landschaft ohne Menschen", während man etwa bei Gustav Mahler den "Erzähler" spüre. "Bei Sibelius ist da tatsächlich immer nur die Natur", so Andsnes, der findet, das Niveau der insgesamt 150 Klavierstücke würde schon auch differieren.

Er habe alles studiert und Stücke gefunden, die weniger pianistisch gedacht und geschrieben seien. Man sehe, dass das Klavier nicht Sibelius' ureigenstes Medium war: "Und doch findet man diese Juwele, in denen wir die Qualität seiner Orchesterwerke wiedererkennen." Obwohl Sibelius verschiedene Klavierstile von Scarlatti über Mussorgski bis Liszt durchprobiert habe, schimmere sein eigener Stil auch im Klavierwerk immer durch.

Hilfe vom Orchester

Er schränkt aber ein: "Wie die Stücke vom Komponisten klanglich gedacht waren, ist nicht immer offensichtlich." Es sei für einen Pianisten daher hilfreich, Sibelius' Orchesterwerk zu kennen und quasi Orchestrierung mitzudenken. Mit dem Finale von Sibelius' originaler Klavierfassung des berühmten Valse triste op. 44/1 war Andsnes übrigens nicht ganz glücklich: "Das Drama am Ende" vermochte Sibelius auf dem Klavier offenbar nicht wirklich zum Singen zu bringen. Da habe Andsnes ihm, Sibelius, beim Arrangement "ein wenig geholfen".

Diese Klaviermusik kam – in ihrer Ganzheit – spät zu Andsnes. Erst vor gut fünf Jahren, als Breitkopf & Härtel mit einer neuen Sibelius-Ausgabe herauskam, habe er alle Noten bestellt, zu lesen und den Gedanken zu hegen begonnen, "eine gute Auswahl dieser Stücke könnte eine wunderbare CD ergeben".

Man kann natürlich nicht über Sibelius reden, ohne Musikphilosoph Theodor W. Adorno zu erwähnen. Seine Glosse über Sibelius, eine ausgewachsene Schmähschrift, hallt da und dort noch immer in den Köpfen der Musikwissenschaft nach. Dass "Sibelius weder einen Choral auszusetzen noch einen ordentlichen Kontrapunkt zu schreiben vergönnt war", gehört da noch zum Sachlicheren ...

Es sei tatsächlich für Komponisten außerhalb der deutsch-österreichischen Tradition nie leicht gewesen, akzeptiert zu werden, findet Andsnes, "natürlich mit Ausnahme der USA oder Englands, wo Sibelius immer häufig gespielt wurde".

Eigenständigkeit und Radikalität

Diskussionen über Ästhetik, wie wichtig zu "ihrer Zeit" auch immer, sollten beigelegt sein angesichts der Eigenständigkeit und Radikalität eines Sibelius etwa in Orchestrierung oder Rhythmik, "auch wenn er in der Harmonik natürlich immer ein Vertreter der Romantik geblieben ist".

Dass Sibelius tatsächlich mehr ist – oder mehr sein könnte – als ein verspäteter komponierender Landschaftsmaler der Romantik, machen Andsnes' glasklare Interpretationen der 24 Klavierjuwele deutlich. Zwei Miniaturen aus Five pieces for Piano op. 75, Björken und Granen, sind trotz "Programm" keine simple Programmmusik. Der Hirt, die Nummer vier aus den 10 Pieces for Piano op. 58, ist kein Schäferidyll, sondern geprägt von drängender Unruhe. Das Rondino aus op. 68 ist ein kleines Virtuosenstück, während der Humoristische Marsch aus 6 Bagatelles for Piano op. 97 in seiner rhythmischen Bockigkeit gar ein wenig an Béla Bartók erinnert.

Mit ähnlichen Vorurteilen wie Sibelius begegne man etwa in Norwegen Komponist Edvard Grieg, der auch mehr sei als "Fjord und Wasserfall" – nämlich ein Produkt seiner Ausbildung in Leipzig, so Andsnes. Grieg habe Elemente norwegischer Volksmusik verwendet, ohne ein besonders "norwegischer" Komponist zu sein. "Das gilt auch für Sibelius, der derart zum Symbol für Finnland gemacht wurde, dass wir kaum mehr wahrnehmen, wie universell seine Musik ist." (Heidemarie Klabacher, 30.10.2017)