Wien – Zuerst die kühle Glasfassade eines New Yorker Gebäudes am Hudson, dann ein Gesicht unter Anspannung. Der Zoom richtet sich auf einen Mann, der gerade vor einem Psychiater ins Schwitzen gerät. Nick (Benny Safdie) ist geistig behindert, seine Züge wirken im selben Moment ausdruckslos und angespannt. Nick soll assoziieren, Kontexte bilden. Er spielt nicht mit, will sich verweigern. Als er die Worte "Salz" und "Wasser" zu "Meer" zusammendenkt, läuft ihm langsam eine Träne über die Wange. Da stürzt sein Bruder Connie (Robert Pattinson) herein, um ihn zu befreien. Begleitet wird er vom frenetischen Elektronik-Score von Oneohtrix Point Never, der den ganzen Film unter Strom setzt.

Auf der Flucht, aber immer mit der Absicht, zugleich seinem Bruder zu helfen: Robert Pattinson ist in dem rauen Thriller "Good Time" von Josh und Benny Safdie in seiner bisher physischsten Rolle als Kleinkrimineller zu erleben.
Foto: Polyfilm

Mit Good Time haben die New Yorker Independent-Filmemacher Josh und Benny Safdie (Go Get Some Rosemary) sich erstmals an einer Genreform versucht. Das (Klein-)Kriminellendrama spielt innerhalb einer langen Nacht, in der so ungefähr alles schiefgeht, was schiefgehen kann. Das so gegensätzliche wie unzertrennliche Brüderpaar versucht sich aus einer Zwangslage zu befreien. Der Plan: ein gemeinsam ausgeführter Bankraub, dann die Flucht vor den staatlichen Institutionen, die schon zu lange über ihre Leben bestimmen wollen.

Beitrag aus der ZiB am Mittwoch.
ORF

Trotz seines Thrillerplots, in dem ein Missgeschick auf das nächste folgt, bildet die Beziehung der Brüder das Herz des Films. Die Taten Connies sind ohne Nicks Zustand nicht verständlich. Auf die Frage, wie viel von ihrem Verhältnis auch in die Rollen eingegangen ist, sagt Benny Safdie im Standard-Gespräch: "Brüder, insbesondere solche, die sich so nahe stehen wie wir, betrachten einander oft als Projektion von sich selbst. Für mich liegt die Schönheit des Films darin, dass Connie fest daran glaubt, Nick befreien zu können." Und zwar mit einer Grenzerfahrung, die ihn aus seinem inneren Asyl herauslockt: "Das Verbrechen wird zu einer metaphysischen Tat."

Den Überfall und die Kalamitäten der Brüder inszenieren die Safdies in einer der dichtesten Sequenzen, die man im US-Genrekino in letzter Zeit zu sehen bekam. Im Fluchtauto zündet eine Farbbombe, woraufhin die Brüder wie zwei Clowns in grelles Rot getunkt durch die Straßen New Yorks fliehen müssen. Von der Verfolgungsjagd der Polizisten, bei der Nick gefangengenommen wird, bis zu den Szenen auf Rikers Island, der berüchtigten Gefängnisinsel, steigert sich die Raserei.

Scheitern auf Bewährung

In Cannes wurde der schmutzige Realismus des Films von der Kritik mit dem New-Hollywood-Kino der 70er-Jahre verglichen. Bei aller Wertschätzung dieser Ära sind die Safdie-Brüder vorsichtig im Benennen von Einflüssen. Ausnahmen sind Ulu Grosbards Straight Time – Dustin Hoffman verkörpert darin einen Ex-Kriminellen – und Norman Mailers Buchchronik The Executioner's Song. Beide erzählen davon, dass man in Bewährung nur scheitern kann. "Straight Time" bedeute dasselbe wie "Good Time", so Josh Safdie: "Das ist ironischer Gefängnisslang. Die gute Zeit bleibt bei Bewährung ja fast immer aus."

Regieduo: Josh Safdie (li.) und sein Bruder Benny.
Foto: Charly Triballeau

Good Time erzählt davon, wie Connie unter Hochdruck die Kaution für Nicks Bewährung auftreiben will, weil er seinem labilen Bruder das Gefängnis ersparen möchte. Die Dynamik des Films ist mit dieser Hilfsaktion verbunden, die tief hinein in die Lebenswirklichkeit eines unglamourösen New York führt. Connie ist zwar schnell im Erfinden von Ideen, trifft dann aber oft zu ungestüm – und mit den falschen Menschen – seine Entscheidungen.

Die Idee, Twilight-Star Robert Pattinson mit dieser Rolle zu betrauen, ist kein gewiefter Casting-Einfall. Es war vielmehr Pattinson selbst, der mit den Safdie-Brüder arbeiten wollte, weil er den fiebrigen Verismus ihrer Filme schätzte. Tatsächlich hat man ihn in noch keinem nervöseren, unaufgeräumteren Part gesehen. Pattinsons Energie hat Josh Safdie von Anfang an überzeugt: "Zugleich umgab ihn diese melancholische Aura eines Veteranen, so als würde er an einer Verwundung laborieren. Twilight muss ihn tatsächlich traumatisiert haben."

Mindestens ebenso wichtig für den rauen Stil des Films ist die Szenerie, in der die Figuren stimmig eingebunden sind. Kameramann Sean Price Williams hat auf Film gedreht: In körnigen Nachtbildern zieht er die Räume eng und unübersichtlich zusammen. Intensive Rot-, aber auch Blau- und Grüntöne tauchen an so unterschiedlichen Orten wie der Wohnung einer westindischen Familie auf; oder später in einem Vergnügungspark, wo sie als Lichter einer Geisterbahn schon wie ein Kommentar zu diesem flirrend schönen Neo-Noir wirken: Zur Durchsetzung des Guten fehlen hier die richtigen Instrumente. (Dominik Kamalzadeh, 2.11.2017)