STANDARD: Als Geograf sind Sie es gewohnt, mitunter komplexe Informationen mittels Landkarten darzustellen. Mit dem "Atlas unserer Zeit" haben Sie jetzt 50 thematische Weltkarten herausgegeben, die einen Eindruck von unserem "sich rasant verändernden Planeten" geben sollen. Worin liegt dabei der Vorteil der Karte?

Bonnett: Karten sind beides, Kunst und Wissenschaft. Sie vermitteln Informationen, aber reizen auch unsere Vorstellungskraft. Sie sind beschreibend, zugleich kreativ und geben sehr schnell Überblick.

STANDARD: Und die Nachteile?

Bonnett: Manchmal sind Karten zu überzeugend. Dann können sie manipulativ wirken. Man kann sie leicht als objektiv missdeuten, dabei bieten sie stets nur eine bestimmte Perspektive, basierend auf ganz bestimmten Daten. Gerade in einem "Informationszeitalter" wie unserem müssen wir uns dessen bewusst sein.

Die Expansion des Flugverkehrs als eine der Karten im "Atlas unserer Zeit" (Dumont), der die Komplexität unseres sich rasant verändernden Planeten auf einprägsame Schaubilder reduziert.
Grafik: Dumont

STANDARD: Karten zu besitzen ging immer einher mit Macht. Sie bieten dem, der sie besitzt, das größere Ganze ebenso wie Detailwissen. Ginge es Ihnen um Macht, hätten Sie die Karten also nicht veröffentlichen dürfen. Sie wollen Bewusstsein schaffen ...

Bonnett: Es ist so einfach, Dinge engstirnig und zu sehr vom lokalen Standpunkt aus zu sehen. Dass es sich im Buch um lauter Weltkarten handelt, ist also wichtig: Manches lässt uns nur ein globaler Blick erkennen, denn erst dann springen uns Ähnlichkeiten und Unterschiede ins Auge oder sehen wir Verbindungen. Gute Karten öffnen einem die Augen.

STANDARD: Welche Karte hat Ihnen die Augen am weitesten geöffnet?

Bonnett: Die über die "Entfernung zur nächsten Stadt". Ich wusste, dass wir als Gesellschaft immer urbaner werden, aber das Ausmaß war mir neu. Nahezu jeder lebt heute in oder nahe einer Stadt mit mehr als 50.000 Einwohnern. Von etwa 60 Prozent des Kulturlands weltweit gelangt man in weniger als zwei Stunden in eine solchen. Das ist eine tiefgreifende Verschiebung.

STANDARD: Manche der Karten sind überraschend, stehen diametral zu unseren Einschätzungen. Auf den ersten Blick etwa die zum "Wasserstress", der sei nämlich in Zentralafrika sehr gering. Das ist so, weil er nicht die Größe von Wasservorkommen an Orten der Welt an sich angibt, sondern diese in Relation zur jeweiligen Bevölkerungsdichte setzt, also zu Menschen, die Wasser brauchen ...

Bonnett: Ich war selbst manchmal überrascht. Aber wenn man weiß, wie so eine Karte zusammengestellt ist, macht es Sinn.

"Ohne Wissen, wie und von wem die Daten gesammelt und die Karten erstellt wurden, ist die beste Karte wenig mehr als ein hübsches Bild", sagt Alastair Bonnett, Professor für Sozialgeografie an der Universität Newcastle upon Tyne.
Foto: Louis Holland

STANDARD: Wo stoßen Karten an ihre Grenzen?

Bonnett: Die Karten im Buch kommen unter anderem von der WHO und der Uno. Mein Beitrag war es, Texte zu ihnen zu schreiben. Als Geograf bin ich begeistert, in welcher Qualität man mittlerweile Karten erstellen kann. Ohne das Wissen, wie und von wem diese Daten gesammelt und die Karten erstellt wurden, ist aber auch die beste Karte wenig mehr als ein hübsches Bild.

STANDARD: Apropos "hübsches Bild": Welche Karte hat Sie am meisten schockiert?

Bonnett: Es ist etwa schwer, von der über "Müll im Meer" nicht schockiert zu sein. In allen großen Ozeanen gibt es mittlerweile riesige Strudel aus Plastikabfällen. Es dauert 500 bis 1.000 Jahre, bis sich Plastik zersetzt. Das wirkt sich massiv auf die Ökosysteme aus.

STANDARD: Welche Erkenntnis aus der Arbeit am Buch macht Sie optimistisch?

Bonnett: Einwohnerzahlen werden kontroversiell diskutiert. Ich glaube, dass sie großen Einfluss auf Nachhaltigkeit und Wohlbefinden haben. Also ist es gut zu sehen, dass laut der Karte zur "Gesamtfruchtbarkeitsrate" die Einwohnerzahl in den "Dritte Welt" genannten Gebieten (mit Ausnahme vieler afrikanischer Länder) sinkt – oft in einem Ausmaß wie im Westen. Ich sehe diese Karte auch als eine der weiblichen Emanzipation, denn vor die Wahl gestellt, entscheiden sich die meisten Frauen für weniger Kinder.

STANDARD: Wir könnten an dieser Stelle auch von "Big Data" reden. Wo liegen moralische und ethische Grenzen des Datensammelns?

Bonnett: Wir sammeln heutzutage nicht nur immer mehr und mehr Daten, das scheint unaufhaltsam. Wir sammeln sie zudem oft einfach nur deshalb, weil sie erhebbar sind, nicht weil wir sie brauchen. Die Karten im Buch haben nichts mit Schnüffeln zu tun, sie stehen am "gutartigen Ende" des Spektrums. Bei persönlichen Daten müssen wir vorsichtig sein, uns fragen, ob wir bestimmte Arten von Informationen, etwa Gendaten, überhaupt in einer Karte festgelegt sehen wollen. Je mehr Technologien zum Datensammeln existieren, desto mehr Daten werden jedenfalls gesammelt werden.

STANDARD: Da wir bei Risiken sind: Welche Gefahren für die Welt lesen Sie aus den versammelten Karten?

Bonnett: Die großen Gefahren liegen im Bereich der Natur und des Einflusses, den wir auf unsere Umwelt nehmen. Als Mensch hoffe ich, dass ich einmal ein Wiederansteigen der Biodiversität und eine grünere Welt erfassen kann. Die Zuwächse und Verluste bei Wäldern weltweit zeichnen aktuell ein gemischtes Bild. Hier und da sieht man in den Karten Signale positiver Veränderungen, aber es sind noch nicht genug. Je mehr Karten, aber auch Vorstellungskraft wir auf diese Probleme anwenden können, desto besser. (Michael Wurmitzer, 2.11.2017)