Der Grüne Jürgen Trittin (zweiter von links) zeigte sich zu den Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition skeptisch.

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Berlin – Elf Papiere und 27 Seiten Text – das ist die formale Bilanz der ersten Runde der Jamaika-Sondierungen zwischen den deutschen Parteien CDU, CSU, FDP und Grüne. Das Ergebnis ist eine Ansammlung an milliardenschweren Vorentscheidungen, Arbeitsaufträgen oder "Laufzetteln" (CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer) und Worthülsen, die echte Konflikte verbergen.

Daneben gibt es Verabredungen und Annäherungen, die sich nicht in den Papieren finden. Zu drei großen Themenkomplexen – Verkehr, Klima und Migration – konnten sich die Sondierer nicht einmal auf eine schriftliche gemeinsame Liste der zu besprechende Themen einigen.

In der "Jamaikologie", also der nötigen Lesart der elf Papiere, deutet etwa der Hinweis auf noch zu besprechende "Fragen" klar auf einen Dissens hin. Tauchen dagegen Worte wie "Bekräftigung" oder "Stärkung" auf, ist bereits die Richtung einer möglichen gemeinsamen Politik der vier Parteien entschieden. In den Beschlüssen stecken deshalb nach Ansicht der Sondierer bereits Vorfestlegungen für die Ausgabe von Milliardenausgaben – auch wenn keine Zahlen genannt werden.

In der kommenden Woche folgt eine zweite Sondierungsrunde, danach bis Mitte November eine dritte, in der dann weitgehende und konkrete Festlegungen getroffen werden sollen. Danach soll ein Gesamtpapier stehen, das etwa die Grünen als Grundlage für ein Votum ihres Bundesparteitages für den Eintritt in Koalitionsverhandlungen brauchen. Ein Überblick über den Stand in den Themengebieten:

Finanzen

Es gibt die Grundsatzeinigung, dass die Schuldenbremse eingehalten werden muss und die vier Parteien ein ausgeglichenes Budget wollen. Es werden konkrete steuerliche Entlastungsmaßnahmen genannt, die damit Eingang in einen Koalitionsvertrag finden dürften: Dazu gehören die Entlastung von Familien mit Kindern, der Abbau des Soli, die Förderung der energetischen Gebäudesanierung sowie die steuerliche Förderung von Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Der Abbau von Subventionen – insbesondere klimaschädlichen – soll geprüft werden. Zahlen werden nicht genannt. Festlegungen sollen erst nach der Steuerschätzung in der kommenden Woche folgen.

Europa

Die potenziellen Jamaika-Partner betonen ihre proeuropäische Ausrichtung und die herausgehobene Bedeutung der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Danach folgt eine lange Liste von noch zu besprechenden Themen. Vorfestlegungen gibt es aber bereits, wenn von der "verbesserten Koordinierung" in der Eurozone oder einem "Ausbau der Forschungsförderung" die Rede ist. Wie schwierig die Papiere zu lesen sind, zeigt der Spiegelstrich "Frage eines Eurozonen-Budgets". Denn eigentlich sind sich alle vier Parteien bereits einig, dass sie dieses nicht wollen – haben auf eine Festlegung aber mit Rücksicht auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorerst verzichtet.

Internationale Politik

CDU, CSU, FDP und Grüne streben eine aktivere deutsche Außen- und Entwicklungspolitik an. "Wir wollen die diplomatischen Ressourcen Deutschlands stärken", heißt es in dem Papier zu dem Sondierungsstand der Komplexe Außenpolitik, Verteidigung, Entwicklung und Handel. Es gibt ein Bekenntnis für eine "werteorientierte Realpolitik", eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit und die Reform des bilateralen Elysee-Vertrags. Zugleich bekennen sich alle vier Parteien zum deutschen Engagement in multilateralen Organisationen wie UNO, NATO und EU, die gestärkt werden müssen. "Wir wollen gute Beziehungen zu Russland", heißt es zudem in dem Papier. Allerdings seien die Grundlagen dafür die "Geltung des Völkerrechts, die Einigkeit des Westens und fortgesetzte Dialogbereitschaft". Im Handelsteil wird die zentrale Rolle der WTO betont, die Parlamentsbeteiligung soll bei neuen Verträgen gestärkt werden. Der Streit über die Erhöhung des Wehretats oder der Sozial- und Umweltstandards in Handelsverträgen ist vertagt worden.

Innen, Sicherheit, Rechtsstaat

Einig sind sich die vier, dass die Zahl der Stellen bei Polizei und in der Justiz möglichst schnell aufgestockt werden soll. Der Bund soll eine stärkere Rolle bei der Koordinierung mit den Länderbehörden übernehmen. Der Bundesverfassungsschutz soll auf Wunsch auch Länder-Einrichtungen übernehmen. Die Videoüberwachung soll an Kriminalitätsschwerpunkten ausgebaut werden. Datenschutz und -speicherung gelten als strittig.

Bildung, Forschung, Innovation

Union, FDP und Grüne streben an, dass Deutschland bis 2025 zehn Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Bildung und Forschung aufwendet. "Wir wollen, dass Deutschland künftig weltweit zu den Spitzenländern bei Bildungsinvestitionen zählt", heißt es. So sollen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2025 auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen. Es solle darüber gesprochen werden, wie künftig mehr Studenten Studienbeihilfen (Bafög) erhalten können.

Digitalisierung

Die vier potenziellen Partner einer Jamaika-Koalition wollen einen "flächendeckenden Breitbandausbau in Gigabit-Geschwindigkeit bis 2025" erreichen. Art und Weise des Breitbandausbaus sowie seine Finanzierung ist nicht geklärt. Funklöcher sollen kurzfristig geschlossen werden. Deutschland soll Vorreiter beim Aufbau des Mobilfunknetzes der fünften Generation (5G) werden. Ins Visier nehmen wollen die vier Parteien eine bessere Vernetzung von Start-ups, Unternehmen und anderen Akteuren.

Arbeit, Gesundheit, Pflege und Soziales

Die vier potenziellen Partner einer Jamaika-Koalition wollen die Höhe der Sozialbeiträge stabil halten. Als Ziel wird auch Vollbeschäftigung in Deutschland genannt, allerdings ohne eine Jahreszahl. Beim Thema Pensionen sei man sich einig, "dass jemand der länger gearbeitet und vorgesorgt hat, im Alter mehr haben soll als die Grundsicherung", heißt es. Diskutiert werden soll über einen flexiblen Pensionsantritt und gleitende Übergänge von Erwerbstätigkeit in den Ruhestand. Auch das Pensionsniveau und die Beitragssatzentwicklung "unter der Berücksichtigung der Generationengerechtigkeit und der angemessenen Absicherung im Alter" stehe auf dem Arbeitsprogramm – ebenso wie Verbesserungen bei der Erwerbsminderungs-Pension oder mögliche weitere Verbesserungen bei der "Mütterrente". Auch bei der Arbeitsmarktgesetzgebung werden noch keine Festlegungen getroffen. Auch die Frage von befristeten Arbeitsverhältnissen und die Regulierung von Zeitarbeit werden als Themen für mögliche Koalitionsgespräche genannt. Gemeinsames Ziel sei, mehr Langzeitarbeitslosen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Wirtschaft

In dem Wirtschafts-Papier bekennen sich die vier Parteien zur Tarifpartnerschaft, die ausdrücklich als Stärke der Wirtschaft bezeichnet wird, sowie zum Bürokratieabbau. Spitzentechnologien sollen ausgebaut werden – besonders genannt wird dabei die Erforschung und der Bau von Energiespeichermedien, die für die Mobilität und Stromversorgung aus erneuerbaren Energien wichtig sind.

Familien, Frauen, Jugend, Senioren

Familien sollen entlastet und Angebote an Betreuungsangeboten für Kinder ausgebaut werden, heißt es in dem Familien-Papier. "Wir wollen Familien finanziell entlasten und den Bezug von familienbezogenen Leistungen unbürokratischer gestalten." Die Bekämpfung von Kinderarmut soll in einem besonderen Fokus einer Jamaika-Koalition stehen. Zudem bekennen sich die vier Parteien zum Ausbau von Bildungs- und Betreuungsangebote in Krippen, Kitas und für Grundschulkinder fördern – und entsprechende Fördermittel für Länder und Kommunen.

Wohnen, Kultur, Kommunen

Die Jamaika-Sondierer wollen verstärkt den Mangel an bezahlbarem Wohnraum angehen. "Unser Ziel ist es, für ausreichenden bezahlbaren und geeigneten Wohnraum für alle zu sorgen und auch Eigentumsbildung gerade für Familien zu ermöglichen", heißt es. Die vier Parteien bekennen sich zudem zum Ziel, die Leistungskraft der Kommunen zu stärken. "Strukturschwächen in Stadt, Land und Regionen wollen wir begegnen", heißt es. Gemeinden sollten bei sozialen Kosten und Flüchtlingshilfen weiter entlastet werden. Die Jamaika-Sondierer wollen ein Maßnahmenpaket besprechen, um eine ausreichende Infrastruktur im ländlichen Raum zu gewährleisten.

Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Der Einsatz von Chemikalien in der Landwirtschaft soll reduziert werden. Es sollten zielgenauere Wirkstoffe entwickelt werden. "Die Zulassung soll transparenter, unabhängig und schneller werden", heißt es in dem Papier. Ansonsten gibt es wenige Festlegungen über eine gemeinsame Agrarpolitik. Vor allem die Vorstellungen von CSU und Grünen gingen zuvor weit auseinander. Beim Thema Verbraucherschutz bekennen sich die Unterhändler nur allgemein zu einer Stärkung des Verbraucherschutzes durch gesetzliche Neuregelungen. Dabei sollen etwa Gruppenklagen und die Datenübertragbarkeit diskutiert werden.. (APA, Reuters, 3.11.2017)