Haben an der Literatur schwer zu tragen: Autoren und Autorinnen sind ans Arbeiten in Abgeschiedenheit gewöhnt und im Messehallenrummel meist verloren.

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Thomas Sautner geb. 1970, ist Schriftsteller und Essayist. Am 11. 11. liest er auf der Buch Wien (12.30 Uhr, ORF-Bühne) aus seinem neuen Roman "Das Mädchen an der Grenze".

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Ich mag tote Schriftsteller. Und mich überkommt eine sehnsüchtige Vorfreude, denke ich daran, künftig selbst einer zu sein, denn das wird großartig, nur der beste Teil von mir wird übrig bleiben, die Literatur. Und ein paar Goldfüllungen.

Bekommt man solche Zeilen per E-Mail von einem befreundeten Kollegen, liegt es nahe, werden Sie nun sagen, um ihn besorgt zu sein, ihn für betrunken zu halten oder für heillos überdreht. Bei einem Schriftsteller allerdings kommt eine weitere Wahrscheinlichkeit hinzu: die des literarischen Einfalls. Obwohl die Worte persönlich klingen, obwohl sie nicht etwa in einem Essay wie diesem, sondern in einem privaten E-Mail stehen, obwohl Parallelen zum Alltag bestehen (der Freund trägt tatsächlich Goldplomben), obwohl, obwohl, obwohl ... können die Zeilen sehr gut ein literarischer Einfall sein, eine Romanidee.

Bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern weiß man ohnehin nie so recht, woran man ist. Woher auch, sie selbst sind sich ihrer uferlos unsicher. Es ist sozusagen ihr Normalzustand. Zumeist nämlich befinden sie sich zwischen den Möglichkeiten. Und normal ist für sie schon allein von Berufs wegen nicht bloß das Hier-und-Jetzt, sondern das Unter-Umständen, das Kann-Sein, kurzum: alles Denk-, Fühl- und somit Schreibbare.

Als seien sie nicht ganz bei sich

Im Grunde führen Schriftsteller allesamt ein Doppelleben, ein Durch- und Übereinander und Kreuz und Quer aus literarischem und herkömmlichem Sein. Das kann einen hernehmen und, gelinde gesagt, konfus werden lassen. Es täuscht also nicht, wenn Schreibende mitunter wirken, als seien sie nicht ganz bei sich. Schließlich gehören sie ihren Romanwelten zumindest ebenso an wie ihrer Alltagsumwelt. Wie verquer sich das anfühlen kann, beschrieb niemand treffender als Franz Kafka: "Ich schreibe anders, als ich rede, ich rede anders, als ich denke, ich denke anders, als ich denken soll, und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel."

Wenn Sie nun zögern sollten, wie geplant eine Buchmesse zu besuchen, weil ihnen beim Gedanken mulmig wird, dort auf Dutzende solcherart gespaltener Persönlichkeiten zu treffen, kann ich Sie beruhigen, weitgehend. Jene Schriftstellerinnen und Schriftsteller nämlich, die es aus der geschützten Werkstatt ihrer eigenen vier Wände (oder des Kaffeehauses) schaffen, die zudem keinen sie niederstreckenden Schwindelanfall beim Benutzen eines vollen öffentlichen Verkehrsmittels erleiden, ja die nicht einmal die Nerven wegschmeißen, wenn sie mit hunderten anderen das Messegelände betreten müssen, und die zuletzt sogar so selbstbeherrscht sind, die Halle der Buchmesse anzusteuern anstatt kurzerhand und instinktgetrieben in eine der Nebenhallen zu flüchten (Vinova, Tobacco, Drinks & Spirits), all jene werden auch ihre Lesungen und Publikumsgespräche ohne größere Zwischenfälle über die Bühne bringen, vermutlich.

Im Grunde – und das enttäuscht Sie nun womöglich – sitzt Ihnen bei literarischen Auftritten ohnehin nicht die Autorin oder der Autor gegenüber, sondern ein Double. Und obwohl dieses Double verblüffende Ähnlichkeit besitzt, ja gar genetisch ident sein mag mit dem Schöpfer jener Werke, derentwegen, und nur derentwegen Sie den Autor schließlich hören, sehen, erleben möchten: Die Wahrheit ist, mit ihm hat der Schauspieler auf der Bühne wenig zu tun. Schriftsteller nämlich spielen sich bei derlei Auftritten sozusagen selbst. Das klingt wirr, aber vielleicht kann Literaturnobelpreisträger Imre Kertész es Ihnen erklären: "Bei mir wächst das Gefühl, die Rolle eines nicht existierenden Schriftstellers zu spielen, von dessen Arbeit, dessen Werken ich nur eine vage und entfernte Vorstellung habe und den ich auch mit der größten Kraftanstrengung nicht überzeugend verkörpern kann."

Bei Großveranstaltungen wie Buchmessen multiplizieren sich derlei Zweifel. Das geht so weit, dass sich Autoren in solchen Flohzirkus- und Heumarktsituationen oft selbst nicht wiedererkennen. Sie müssen sich das nämlich so vorstellen: Sie als Schreiberin oder Schreiber, gewohnt also ans Arbeiten in stiller, geradezu kontemplativer Abgeschiedenheit – plötzlich im Messe(!)Hallen(!) Rummel(!), inmitten stehender Hitze, Enge, Stimmengewirr. Überlappend nämlich finden, dicht an dicht, auch weitere Lesungen, Podiumsgespräche, Diskussionen und allerlei Plaudereien statt. Sie also nun mittendrin und Teil davon, auf einer inselähnlichen Bühne. Und im Publikum nicht nur Menschen, die an Ihrem Roman interessiert sind, sondern auch solche, die es mehr oder weniger mechanisch aus dem rundum wabernden Besuchermeer angespült hat und die sich, wie es der Augenblick will, in einer der bunten menschlichen Zustandszufälligkeiten befinden: ausruhend, essend, trinkend, gähnend, telefonierend, abwesend an die Decke starrend, belustigt wegen irgendetwas kichernd oder bloß den Sitz verteidigend, um die nachfolgende Autorin nicht zu verpassen. Sie also da mittendrin, auf der Bühne, und sich selbst irgendwie dabei beobachtend, wie Sie versuchen, konzentriert und zugleich entspannt aus Ihrem Roman zu lesen, also etwas zu tun, wofür es Aufmerksamkeit braucht, Atmosphäre, ja so etwas wie Stimmigkeit.

Und dann, als wäre die Herausforderung noch zu wenig komplex, nämlich exakt in jenem Moment, in dem Sie bedachtsam Atem holen für den ersten zu rezitierenden Satz, ertönt hallenweit die Lautsprecherdurchsage: "Bitte jetzt zur Kinderbuchbühne, es folgt der Auftritt von Clown Poldi! Clown Poldi, jetzt gleich auf der Kinderbuchbühne!"

Alles in allem, finden Sie, klingt das leicht selbstzerstörerisch, und Sie rätseln nun, weshalb sich Schriftsteller Lesungen unter solchen Bedingungen überhaupt antun? Dreimal dürfen Sie raten. Erstens: Eitelkeit? Ja, kann sein. Bei Autoren ist sie aber meist nicht gar so entscheidend, wie Sie vielleicht glauben mögen. Zweitens: das Lesehonorar. Ja, durchaus! Bei Buchmessen allerdings: Nein, da ist die Gage für gewöhnlich lächerlich bis inexistent. Drittens, und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Autoren, die allermeisten jedenfalls, sind bereit: schier alles für ihren Roman zu tun. Und sei es um den Preis, sich auf offener Bühne zum Zirkusbären zu machen. Autoren glauben nämlich – selbst wenn sie sonst an gar nichts glauben – an eines ganz fest: dass sie im Dienst einer höheren Sache stehen. Und diese Sache freilich ist die Literatur. Zugegeben, in der Praxis stellen sich die meisten Autoren lediglich in den Dienst ihrer höheren Sache, ihrer Literatur. Sei's drum.

Zusammenspiel Klasse/Masse

An die 100.000 Buchtitel jedenfalls erscheinen jährlich allein im deutschsprachigen Raum. Entsprechend leidenschaftlich ist nicht nur der Einsatz der Autoren für ihre Werke, sondern auch das Buhlen der Verlage um die Aufmerksamkeit von Medien, Buchhändlerinnen und Leserinnen. Zumeist werden mehr Mitarbeiter fürs Bewerben der Literatur beschäftigt (also für Marketing und PR) als fürs Lektorat – die Herz- und Seelenkammer jedes Verlags. Die naheliegende Schlussfolgerung, dass Verkaufszahlen in der Literatur mittlerweile wichtiger sind als die Literatur selbst, würde von sämtlichen Verlegern reflexartig zurückgewiesen werden. Es gehe um ein Zusammenspiel von Klasse und Masse, ein Ergänzen und Ermöglichen. Bestseller, lautet die gängige Formel, finanzierten wichtige, aber schwer verkäufliche literarische Kleinode. Tatsächlich nimmt der Anteil der Bestseller am Gesamtbuchverkauf freilich stetig zu, läuft seit Jahren ein Verdrängungsprozess zugunsten einfach konsumierbarer Belletristik auf Kosten von Literatur, die gegen den Strich gebürstet ist, die herausfordert und von der beispielsweise nicht gesagt werden kann, dass ein zweihundert Seiten starker Roman in einer einzigen Nacht verschlungen worden sei, weil auf diesen zweihundert Seiten eben dutzende Passagen zum Verweilen einladen, zum abermaligen und abermaligen Lesen; weil auf diesen zweihundert Seiten dutzende Sätze stehen, die nachdenklich machen, verdutzt, ja verstört und die den Leser geradezu zwingen zum Innehalten, zum Sich-infrage-Stellen und zum anschließenden Neuentdecken.

Vor exakt fünfzig Jahren forderte Peter Handke von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder und kritisierte sie dafür, zum trivialen Realismus zu verkommen, dem Lesenden keinen Widerstand mehr zu leisten, ihm nichts Neues zu vermitteln, sondern nur schablonenhaft Varianten von ein und demselben. So ändere Literatur nichts am Bewusstsein der Leser, sondern komme diesen entgegen, bekräftige damit ihre Muster, lasse alles beim Alten.

Sehnsucht nach Neuem

Literatur dieser Art allerdings verdient ihren Namen nicht. Denn sie dient eben nicht der Welt- und Seinsoffenheit, nicht der Sehnsucht von uns Menschen nach Neuem, Größerem, Grenzüberschreitendem, kurzum nicht der Aufklärung, ist stattdessen bloß gefallsüchtiger Handlanger des Mainstreams. Dazu aber braucht es Literatur nicht. Die Beschallung der Echokammern besorgen heute ohnehin andere Medien mit hirnbetäubender Effizienz, zuvorderst freilich die sozialen Netzwerke.

Obgleich sich die Beobachtung aufdrängt, der Mainstream habe erst in den vergangenen Jahren Fahrt aufgenommen, befand der große Sándor Márai schon vor dreißig Jahren: "Die Literatur ist tot, es lebe die Buchindustrie."

Und wie jede Industrie wünscht sich auch jene der Bücher nun einmal Produkte, die den Geschmack des Publikums treffen, und nicht etwa solche, die verwundern, verändern oder die gar eigens so gestaltet sind, dass sie die Leserschaft durcheinanderbringen, wie es etwa Friederike Mayröcker mit anhaltend jugendlichem Vergnügen tut.

Etwas Neues, so die Betriebsanleitung der Verlage an ihre Autoren, soll ein Roman durchaus liefern. Anders als die üblichen soll er sein, herausblitzen aus dem Gewöhnlichen, doch Vorsicht, nicht allzu sehr, denn die Leser zu überfordern bedeutete einen Schuss nach hinten. Am besten sollte die Abweichung vom Gewohnten in homöopathischen Dosen erfolgen.

Oder, noch besser, die Abweichung sollte wie ein Schönheitsfleck auf einem makellos und von jedermann zu akzeptierenden Gesichtchen sein, etwa so wie das Muttermal auf Marylin Monroes Wange. Ja, irgendetwas wäre gut, das den neuen Roman außergewöhnlich erscheinen lässt, Pardon, etwas, das ihn außergewöhnlich macht. Und, nicht zu unterschätzen für den Erfolg, die richtige Länge muss ein Roman heutzutage haben.

Tatsächlich kann es vorkommen, einer Kollegin ist es passiert, dass eine Autorin nach der Abgabe des neuen Romans vom Verlag gebeten wird, ihrem fertigen Text noch hundert Seiten hinzuzufügen, denn der Markt und die Kritik verlangten das derzeit. Um die dreihundertfünfzig Seiten, das sei das Minimum. Bücher, die als groß gelten wollten, müssten momentan nun einmal dicke Bücher sein. Zu blöd freilich, sollte eine Autorin, solcherart motiviert, ein Jahr später den verlängerten Roman beenden und sich herausstellen, dass nun schlanke Romane gefragt sind und der Markt und die Kritik leider überhaupt nichts anzufangen wissen mit derart ausladenden Werken.

Meinem Autorenfreund übrigens, der sich den Tod herbeisehnte, geht es gut. Auch er liest auf der Buch Wien 17. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie seine Goldplomben hervorblitzen sehen, sobald er lacht. Und er lacht gern, er hat auch reichlich Anlass dazu. (Thomas Sautner, Album, 4.11.2017)