Schutting: Seine "Betrachtungen" machen klar, wie sehr sein Schreiben von der Fotografie geprägt ist.

Foto: Gerhard Zeillinger

Julian Schutting, "Betrachtungen. Texte und Photographien". € 23,– / 207 Seiten. Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten 2017

cover: Literaturedition Niederösterreich

Hat das alles wirklich so begonnen? 1953 hält der damals Fünfzehnjährige die Enge der Kleinstadt nicht mehr aus, er schmeißt das Gymnasium in Amstetten und will in Wien Fotografie studieren. Dabei hat er noch nie einen Fotoapparat in der Hand gehabt. Dennoch oder gerade deswegen wird er an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt aufgenommen. Der Leiter der Fotoklasse, Ernst Hartmann, erkennt sofort das künstlerische Potenzial dieses besonderen Schülers, nur in einer anderen Richtung: "Du schreib", sagt er zu ihm, mit der handwerklichen Seite der Fotografie solle er sich gar nicht groß auseinandersetzen. Vor allem eröffnet der Professor dem Jugendlichen eine neue "Weltsicht", er bringt ihn mit Malerei, Architektur, Zwölftonmusik und mit moderner Literatur in Berührung, gibt ihm Baudelaire und Valéry zu lesen.

Der Schüler ist beeindruckt und beginnt zu schreiben, Gedichte und Kurzprosa, expressionistische und zugleich abstrakte Texte, die er wöchentlich seinem Lehrer abliefert. Der tippt sie auf Schreibmaschine und lässt Durchschläge in einem privaten Kunstzirkel kursieren. 1956 initiiert er auch Schuttings erste Veröffentlichung: Zwei Gedichte erscheinen in der Weltpresse, einer vom britischen Informationsdienst gegründeten Tageszeitung, in der auch Friederike Mayröcker und Ernst Jandl in der Rubrik "Forum junger Autoren" zu Wort kommen. Schutting ist damals achtzehn und noch ohne Vorstellung, ob er das mit dem Schreiben überhaupt ernst nehmen soll. Im selben Jahr schließt er auch seine Fotografenausbildung mit der Gesellenprüfung ab – um den Beruf nie auszuüben.

Vertreter der Avantgarde

Stattdessen holt er an der Abendschule die Matura nach, beginnt Geschichte und Deutsch zu studieren und 1965 zu unterrichten. Ein Brotberuf ist notwendig, hat ihm Prof. Hartmann angeraten. Erst jetzt fängt Schutting wieder zu schreiben an, Ernst Weigel, Hilde Spiel und Jeannie Ebner werden auf ihn aufmerksam. 1973 ein fulminanter Start: Bei Otto Müller erscheint ein Gedichtband, im Europaverlag Prosatexte. Im Jahr darauf ist er bereits Hausautor des Residenz-Verlages und einer der wichtigsten Vertreter der Avantgarde in Österreich. Das Weitere ist bekannt. Und das Fotografieren?

Schutting arbeitet gerade in den 1970er-Jahren viel mit Collagen: private Spielereien, die für sein Schreiben aber unerhört wichtig sind, weil er darin Techniken ausprobiert, wie man Wirklichkeit verändern kann. Aber das Foto grafieren selbst vernachlässigt er, obwohl er später bekennt: "Während meiner fotografischen Ausbildung habe ich sehen gelernt", und das Medium Fotografie habe ihm "geholfen, Wahrnehmungen zu speichern und Eindrücke richtig zu beleuchten". Erst um das Jahr 2000 legt er sich wieder einen Fotoapparat zu, seither fotografiert er wieder intensiver, und zwar parallel zum Schreiben, denn das Fotografieren erweist sich als literaturstiftend. Einige wenige Fototexte werden auch veröffentlicht, aber der fotografierend Schreibende betreibt auch das nicht aktiv genug, obwohl seine Literatur aus dem Angeschauten, aus den Bildern hervorgeht. Schließlich mündet der Akt des Festhaltens einer Beobachtung direkt in den Akt des Schreibens, das Fotografieren ist bei ihm gleichsam vorweggenommene Textverarbeitung.

An den Ausgangspunkt zurück

Dieser Tage achtzig geworden, hat sich Julian Schutting – und uns Leser – endlich doch mit einem Buch beschenkt, mit dem er an den Ausgangspunkt seines Schreibens zurückkehrt: Betrachtungen. Texte und Photographien heißt der sehr genau zusammengestellte Literatur- und Fotoband, der bezeugt, wie sehr sich das Schreiben einst aus der Fotografie entwickelt hat. In einer Mischung aus Essay und Tagebuchnotizen lässt er uns an Wahrnehmungen teilhaben, die er zumeist bei Stadtspaziergängen durch Wien aufsammelt und in ihrer Unmittelbarkeit abbildet, ohne jeden Anspruch auf Fotokunst.

An die künstlerische Fotografie hat Schutting ohnehin nie geglaubt, eigentlich will er nur Arbeitsfotos fürs Schreiben machen. Dementsprechend ist sein Umgang mit dem Medium Fotografie ein wenig nonchalant: Um technische Brillanz kümmert er sich erst gar nicht, er fotografiert mit einer einfachen Kompakt kamera, analog, mehr braucht es auch nicht – an der Fotografie interessiert ihn, den Perfektionisten im Schreiben, nicht die handwerkliche Ausführung, sondern die Idee, genau genommen die Möglichkeiten der Wirklichkeit.

Da kommt er zum Beispiel an der Albertina vorbei, als diese gerade großzügig umgebaut wird: Ein Blick durch eine in die Rampe geschlagene Öffnung auf das Reiterstandbild suggeriert ein Bild, das auch nach einem Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg entstanden sein könnte. Oder die über den Winter mit Jute säcken verhüllten Rosenstöcke im Volksgarten, die auf Schuttings Foto grafien aussehen wie ein Zug geschlagener Soldaten, Pilger in Sack und Asche, Ketzer in Ketten oder Aussätzige in verschmutzten Kleidern. Auf dem Bahnhof Heiligenstadt entdeckt er eines Tages eine ausrangierte Zuggarnitur der Compagnie Internationale des Wagons-Lits – und die Bilder wecken plötzlich Gedanken an die Deportationen in die Vernichtungslager.

Fotos, die auf den zweiten Blick etwas ganz anderes zeigen, die eine dem gewöhnlichen Beobachter kaum bewusste Wirklichkeit ins Blickfeld treten lassen. Aber die Macht der Bilder, ihre Mehrdeutigkeit evoziert die Unruhe unter der Oberfläche. Und genau in solchen mehrwertigen Bildern begegnen wir Schuttings Poetik, der Methode seines Schreibens. Denn in seiner Literatur arbeitet er immer mit dem Möglichkeitscharakter, besonders in den frühen Texten erzeugt er mit mehrwertigen Bildern Irritationen, um das Abgründige hinter den Augenblicken erahnbar zu machen – "etwas als etwas anderes anzusehen, bis es zu diesem wird, bis eins im andern erscheint", hat er einmal sein poetisches Prinzip beschrieben.

Etwas als etwas anderes

Dass diese Methode aus dem Medium Fotografie kommt, zeigen die Fotos in diesem Band, die optisch verdeutlichen, was Schut tings Literatur ansonsten nur zwischen den Zeilen sichtbar macht. Etwa der Pferdekopf auf einem Plakat, das bereits so verwittert ist, dass dem dargestellten Pferd die Haut aufzubrechen und sich abzulösen scheint – "als wenn sich ein Kadaver bei beginnender Eiweißzersetzung bläht".

Hier erfinden sich Bild und Literatur auf einer Metaebene neu, all das macht auch deutlich, wie sehr Schuttings Schreiben von der Fotografie geprägt ist und ohne dieses Medium vielleicht gar nicht denkbar wäre. Seine Dichtung, stand einmal in der Kunstzeitschrift Parnass zu lesen, habe das fotografische Spiel mit Lichtwerten und -schärfen als Hintergrund. In diesem Buch tritt es, endlich, auch in den Vordergrund: ins Sehfeld des überraschten Lesers. (Gerhard Zeillinger, Album, 4.11.2017)