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Die Replikas müssen besser aussehen als die Originale, weil sie in der Auslage von Restaurants stehen und Kundschaft anlocken sollen.

Foto: Getty Images / coward lion

Wenn Fumiyoshi Nagao Plastikessen macht, investiert er in viele Gerichte mehrere Wochen Zubereitungszeit. Zu Hause kocht er höchstens fünf Minuten – ein Ei.

Fumiyoshi Nagao nimmt Anlauf und springt auf die Chanko-Nabe-Suppe. Kein einziger Tropfen spritzt aus der Schüssel. Kunststück, ist doch der Sumoringer-Eintopf, den der Japaner nun laut lachend in die Luft hält, aus Kunststoff.

Seit über 40 Jahren stellt der Mittsechziger in einem Kelleratelier in der Tokioter Vorstadt kunstvolle Nachbildungen von Speisen her. Wer ihn besucht, sieht schon von weitem, dass er an der richtigen Adresse ist: Auf Nagaos Postkasten stehen drei Gläser Bier mit Schaum für die Ewigkeit.

Ein paar Stufen weiter unten landet man in seinem kleinen Replika-Reich, in dem kreatives Chaos herrscht. Überall sieht man Suppenschüsseln, riecht aber nur Farbe und nicht Ramen, die bekannte japanische Nudelsuppe. Ein Teller mit Würsteln und Kraut liegt zwischen Pinseln, Lösungsmittel steht neben den sieben Krügeln Bier, die gerade frisch gestrichen und zum Trocknen mit Folie zugedeckt wurden.

Die Arbeitsfläche ist mit Zeitungspapier ausgelegt, darauf liegen Messer und Scheren in allen Größen, darunter befinden sich Schubladen, vollgestopft mit Nudeln, Faschiertem und Gemüse – alles, was man für die Zubereitung einer kräftigen Suppe braucht.

Sammeln und samplen

Die unverdaulichen Doppelgänger bekannter Gerichte, die bei Nagao und vielen anderen Herstellern entstehen, sind in Japan fester Bestandteil des Alltags. Das fällt Reisenden spätestens dann auf, wenn sie zum ersten Mal essen gehen und in die Auslage vor oder im Lokal schauen. Viele japanische Restaurants haben so ein Schaufenster für die Nachbildungen der angebotenen Speisen.

Mittlerweile ist das Sammeln der Plastikgerichte auch zum Hobby geworden, als Souvenirs sind die Food-Samples sowieso sehr beliebt. "Die Replikas sind nicht nur für diejenigen wichtig, die keine japanischen Schriftzeichen lesen können", sagt Nagao, während er den Blick durchs Atelier schweifen lässt. "Wer nur das Menü liest, weiß ja nicht, wie das Gericht aussehen soll." Durch die Nachbildungen könne man sehr genau abschätzen, was nach der Bestellung auf den Tisch kommt.

Seine Modelle stellt Nagao vor allem für eine Gastrokette her, doch selbst im Luxusbezirk Ginza könne man sie hinter Glas bewundern, wie er ein wenig stolz erzählt.

Paraffin und PVC

In den Anfangsjahren seines Betriebs verwendete er dafür noch Paraffin – genau so, wie es zu den Pionierzeiten des Food-Samplings gemacht wurde. "Das war vor 80, 90 Jahren", sagt Nagao, während er mit gar nicht pickigem Klebereis hantiert. Dann brach ein anderes Zeitalter der Künstlichkeit an: Das unverwüstliche und viel detailreicher zu verarbeitende Polyvinylchlorid, kurz PVC, setzte sich durch.

Plastikessen hat Nagao seit jeher fasziniert. Schon als er in die Schule ging, schaute er sich die Nachbildungen in den Auslagen gerne an. Nach seinem Abschluss suchte er Arbeit und landete schließlich bei einem großen Hersteller von Replikas. "Das war Ende der 1960er-Jahre, die Wirtschaft lief gut, und es eröffneten überall Restaurants. Sie alle benötigten Samples", erinnert er sich. Eine Ausbildung gab und gibt es nicht für seinen Beruf. "Das war für mich alles learning by doing", sagt er.

Nachbauen der Gerichte

1981 gründete er dann sein eigenes kleines Unternehmen, das fünf Mitarbeiter beschäftigt. Damit der Betrieb "Nagao Samples" nicht zusperren muss, wenn er einmal in Pension geht, hat er auch seinen einzigen Sohn ins Atelier geholt und ihn als Nachfolger in die Geheimnisse des Kochens mit Kunststoff eingeweiht. Mit seiner Frau wohnt er im selben Haus über dem Atelier, doch daheim, sagt er, hätten die Samples nichts verloren. Zu Hause werde richtig gegessen.

Bekommt Nagao einen Auftrag, verlässt er seine Werkstatt und holt sich im Restaurant die Gerichte ab, die er nachbauen soll. Vorsichtig jongliert er dann ganze Menüs bis in seinen Keller und stellt von jeder einzelnen Zutat einen Abdruck her.

Eine Hendlhaxe etwa kommt erst in eine kleine Box, die dann mit flüssigem Silikon ausgegossen und acht Minuten bei 180 Grad erhitzt wird. Nicht immer fängt er bei null an: Seine Schubladen sind voll mit Plastikzutaten, die er häufiger benötigt. Langweilig wird ihm nicht, denn immer wieder gebe es Gerichte nachzubilden, die er noch nie zuvor gesehen habe.

Selbst populäre Speisen wie Schweinskoteletts, die er häufig "zubereitet", sehen immer wieder anders aus. "Auch die Beilagen wechseln andauernd", sagt er grinsend. Mehrere Tausend Replikas verlassen jährlich seine Küche – das sind wenige im Vergleich zu den großen, industriellen Herstellern, die oft einige Millionen Exemplare im Jahr produzieren.

Reiskörner und Pinzette

Selbst bei einem Profi wie Nagao gelingen nicht immer alle Gerichte sofort – das beweist ein ganzer Haufen weggeworfener Replikas neben dem Arbeitstisch. Er ist ein Perfektionist, der sich trotz der künstlerischen Detailarbeit in erster Linie als Handwerker versteht. Wie sehr ihm diese Fertigkeit immer noch Freude bereitet, ist ihm im Gesicht anzusehen.

Etwa, wenn er ein kleines Spiegelei auf einem Reisbett drapiert und dabei jedes einzelne Reiskorn mit der Pinzette in Position bringt. Bis er ein Gericht vom ersten Entwurf bis zum fertigen Sample nachgebaut hat, können schon einmal zwei oder drei Wochen vergehen.

"Mein Essen soll möglichst gut ausschauen – nein, es muss sogar besser aussehen als das Original. Die Restaurants wollen ja Kundschaft anlocken", sagt er. Dennoch hat er nach all den Jahren in seiner Zauberküche nie eine Leidenschaft dafür entwickelt, mit echten Zutaten zu hantieren. "Was ich kochen kann? Ein Ei", gesteht er. (Sascha Rettig, 4.11.2017)