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Ausgewogene Strukturen mit Dirigent Cornelius Meister.

AP: Lilli Strauss

Wien – Die Uraufführung, welche im politischen Extremhitzejahr, also 1968, in Hamburg im Tumult und Polizeieinsatz unterging, wurde zu einer Art Skandallegende. Das eigentlich Unfassbare verbarg sich jedoch in der alten Geschichte selbst, die in Hans Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa geschildert wird. Sie führt ins 19. Jahrhundert und auf hohe See; es geht um 1816.

Die französische Fregatte Medusa läuft fünfzig Kilometer vor der mauretanischen Küste auf eine Sandbank und vermag sich nicht zu befreien. Es wird ein Floß gebaut, das von den zu wenigen Rettungsbooten (die den Gouverneur, den Kapitän, die höheren Ränge und Beamte sicher an Land bringen werden) hätte mitgezogen werden sollen. Dies jedoch erweist sich als unmöglich. Schließlich werden die Seile gekappt und das – mit 150 Menschen übervolle – Floß dem Willen der Strömung ausgesetzt. Als es später rein zufällig aufgefunden wird, trägt es noch 15 Überlebende.

Die Geschichte dieser Unmenschlichkeit wird in Henzes Oratorium zur elegischen Anklage gegen das Inhumane mit formal eleganten Mitteln. Geschildert wird aus der Sicht diverser Figuren, auch aus der Sicht der Toten und der Lebenden. Umrahmt werden sie vom groß besetzten RSO-Wien unter dem umsichtigen Cornelius Meister: Da ist Fährmann Charon, der Erzähler, den Sven-Eric Bechtolf Prägnanz auch in jenen Passagen verleiht, da sein Vortrag mit Glissandi ins Sprechgesangliche übergeht.

Ausgewogene Kunst

Da ist der klagende Jean Charales, dem Dietrich Henschel schwermütige Leichtigkeit verleiht (er sprang für Matthias Goerne ein). Und da wäre La Mort, der Sopranistin Sarah Wegener sowohl Unmittelbarkeit wie auch lyrischen Zauber einhaucht. Zusammen mit den Wiener Sängerknaben und dem Arnold Schoenberg Chor wurde eine auch im Expressiven ausgewogene Version des Werkes geformt.

Die vielfach sanften, kammermusikalischen Strukturen des Oratoriums, das Henze seinerzeit Che Guevara gewidmet hat, sind zum Finale hin eher in Richtung dramatisches Aufbäumen unterwegs. Es sind aber sowohl die Melancholie des Mitgefühls, die hier lange mitschwingt, wie auch die nervösen Verdichtungen der Angst und Verzweiflung beim Orchester in souveränen Händen.

Zum Schluss hin wird mit "Ho? Chí Minh"-Rufen in einem sanften Crescendo an die aufgeladene Atmosphäre des Jahres 1968 erinnert. Die sich im Konzerthaus aufdrängenden Assoziationen zu den Flüchtlingskatastrophen, die sich im Mittelmeer abspielten, waren damit aber nicht zu übertönen. (Ljubiša Tošić, 3.11.2017)