Sopranistin Salome Kammer bei "Das Imaginäre nach Lacan".

Foto: Markus Sepperer

Wien – Bunt und jugendlich ist das Publikum im Großen Konzerthaus-Saal, wo das Webern Symphonie Orchester der Musikuni durch Studierende des Conservatoire national de Paris erweitert wurde: Auffällig viele Damen und Herren aus dem orientalischen bzw. arabischen Raum sind dabei, etliche Frauen mit Kopftuch, einzelne Männer in kaftanartigen Gewändern. So laut, wie manche Pausengespräche aufwallen, so gespannt ist die Aufmerksamkeit während des langen Claudio-Abbado-Konzerts in Erinnerung an den Dirigenten und Initiator des Festivals Wien Modern.

Die Internationalität der Zuhörer hat wohl ihren Grund im letzten, für ein Orchesterkonzert mit neuer Musik eher unorthodoxen Programmpunkt, der ein weites Assoziationsfeld eröffnet: Ganz dem Festivalmotto "Bilder im Kopf" verpflichtet war dabei die Uraufführung von Das Imaginäre nach Lacan von Iris ter Schiphorst, die als Experiment mit der visuellen und auditiven Wahrnehmung von Lacans These ausging, dass sich Individuen erst durch ihre Begegnungen mit dem "Anderen", mit dem "Fremden" definieren.

Frühislamische Texte

Dafür hat Librettistin Helga Utz poetische frühislamische Texte von Dichterinnen kompiliert, die die eindringliche und dabei virtuose Sopranistin Salome Kammer abwechselnd "arabisch" verschleiert und dann "europäisch" gekleidet sang. Von orientalisch angehauchten Kantilenen bis zu extrovertierten Mustern in der Nähe von amerikanischer Popularmusik reichte die stilistische Bandbreite des Stücks.

So einfach diese Grundidee, so plastisch und schlicht das musikalische Material, so wirkungsvoll war allerdings das Setting – und die dabei entstandenen Bilder im Kopf werden wohl bei vielen noch lange nachklingen.

Die Überfahrt

Zunächst jedoch ging es im Konzerthaus bei Wien Modern um komplexe innermusikalische Phänomene: Auch wenn Komponist Hugues Dufourt, Mastermind der französischen Musique spectrale, das hier uraufgeführte vierzigminütige Stück Le Passage du Styx d'après Patinir (2015) nach seiner Inspirationsquelle, dem Gemälde Überfahrt in die Unterwelt des flämischen Malers Joachim Patinir aus dem frühen 16. Jahrhundert, benennt, ist es weit von vertonter Programmatik entfernt.

Stattdessen treten zeitlupenartig vergrößerte, langsame Übergänge aus dem Inneren des Klangs kaleidoskopartig ans Licht, was der Dirigent Ilan Volkov mit den jungen Musikerinnen und Musikern minutiös umsetzt. Wenn Tonsetzer Dufourt ein systematisch denkender Klanganalytiker ist, für den freilich die sinnliche Wahrnehmung doch im Mittelpunkt steht, dann verkörpert Kollege Georges Aperghis eher den Typus eines Komponisten, der spontanen Regungen und urwüchsigen Impulsen folgt.

Orgel und Akkordeon

Sein Concerto für Akkordeon und Orchester bestach durch irisierende Klangwirkungen und feinsinnige Überblendungen zwischen Soloinstrument, Streichern und Bläsern des Orchesters. Die Idee, mit der Orgel dem Akkordeon Konkurrenz zu machen, wurde kompositorisch allerdings doch eher sehr grobschlächtig umgesetzt – ebenso wie die vehementen, jedoch monotonen Alleingänge des fulminanten Solisten Jean-Etienne Sotty. Womit das Konzert schloss, also Das Imaginäre nach Lacan, bleibt eher in Erinnerung. (Daniel Ender, 5.11.2017)