Im Duett mit Emese Cuhorka (rechts) tanzt Éva Fahidi das Stück "Strandflieder". Es erzählt in Lebenstableaus von der Kindheit in Debrecen, der Familie und deren Zerstörung in Auschwitz.

Foto: Csaba Mészáros/The Symptoms

STANDARD: Sie tanzen sehr elegant. Man denkt, Sie waren schon immer Tänzerin. Waren Sie?

Fahidi: Das war ich nie. Meine Mutti sagte, es würde auf der Welt keinen Riesen geben, der mich heben könnte, ich war damals etwas korpulent. Ich bin im Lauf meines Lebens 16 Zentimeter kleiner geworden.

STANDARD: Woher kommt Ihre Beweglichkeit?

Fahidi: Von meiner Mutti. Sie war nicht schlank, aber sehr geschmeidig. Ich musste wegen meines krummen Rückens ein Leben lang Heilgymnastik machen. Bis heute. Ich habe einen Meister, und einmal in der Woche arbeite ich mit einer Ballettmeisterin.

STANDARD: Im Tanz ist man lebendig. Wollten Sie das ausdrücken?

Fahidi: Tanzen ist wie Atmen, man denkt nicht daran, man tut es. Der Tanz ist etwas ganz tief im Menschen drinnen Lebendes. Die Zivilisation wirkt nur leider nicht immer gut auf diese menschliche Eigenschaft. Jeder Mensch würde gern tanzen, aber der Beruf, der Alltag, die Termine. Der Mensch ist nicht kalibriert für so ein Leben, er nimmt es zwangsläufig an, sollte in Wahrheit aber tanzen!

STANDARD: Sie haben als Einzige Ihrer Familie den Holocaust überlebt, 49 Verwandte wurden von den Nazis ermordet. Haben Sie es als Auftrag empfunden, die Familiengeschichte weiterzutragen?

Fahidi: Ja! 59 Jahre danach wurde ich nach Birkenau eingeladen und habe vor Ort die Erfahrung gemacht, dass es für die Toten keine Art des Gedenkens gibt. Da war nichts, alles war wie damals. Dann habe ich begonnen ein Büchlein zu schreiben. Auf Deutsch, es kostete fünf Euro, die Menschen haben es gekauft. Zu Hause habe ich dann erzählt, was für eine große Schriftstellerin ich geworden bin. Später habe ich es auch auf Ungarisch geschrieben. Ich habe mein Leben lang gern geschrieben.

STANDARD: Gedichte, Tagebücher?

Fahidi: Nein, egal, alles Mögliche, schon in der Schule. Es hat mir einfach immer Spaß gemacht, mit Sprache umzugehen. Wir Kinder haben drei Sprachen auf fast dem gleichen Niveau gesprochen: Ungarisch, Slowakisch und Deutsch.

STANDARD: Sie haben 59 Jahre geschwiegen, der Wendemoment war der Besuch in Birkenau?

Fahidi: Ja, und dann kamen die erfolgreichen Jahre. Als man bemerkt hat, dass ich Deutsch spreche, hat man begonnen mich einzuladen. Zum 70. Jahrestag, das war 2015, da war ich 13-mal in Deutschland zu Besuch. Ich wollte jedes Mal unbedingt gehen.

STANDARD: Wie haben Sie das erlebt?

Fahidi: Also es wäre lächerlich zu sagen, dass es mit Freude geschah. Eher mit Genugtuung, das trifft es besser. Ganz wichtig war für mich der Prozess gegen Oskar Gröning (Éva Fahidi war Nebenklägerin im Prozess gegen den SS-Schergen von Auschwitz, Anm.).

STANDARD: Haben Sie Deutsch nicht als die Sprache der Täter verinnerlicht?

Fahidi: Oh nein, was kann denn die deutsche Sprache dafür? Deutsch ist eine der schönsten Sprachen überhaupt, und ich kann mich – nach Ungarisch – in ihr auch am freiesten und reichsten ausdrücken.

STANDARD: Sie sprechen in "Strandflieder" auf der Bühne Ihren Monolog über Auschwitz ebenfalls auf Deutsch. Warum?

Fahidi: Einerseits weil ich es auf Deutsch erlebt habe, andererseits weil ich meine Sätze für ein deutsches Publikum ganz direkt vermitteln kann.

STANDARD: 1945 sind Sie als Zwanzigjährige allein in Ihre Heimatstadt Debrecen zurückgekehrt. Mit einem Zettel, auf dem stand: Ständiger Wohnsitz: Vernichtungslager Auschwitz, Beschäftigung: ehemaliger Häftling. Wie haben Sie es geschafft, da weiter zu tun?

Fahidi: Meine Rettung war, dass eine Schwester meiner Mutter in der Slowakei überlebt hatte. Sie und ihr Mann waren lange in einer Papierfabrik versteckt und gingen später zu den Partisanen. Die beiden haben die Trümmer von seiner und unserer Familie zusammengesammelt. Ich bin dort in Schockstarre zwei Jahre lang im Bett gelegen. Ich konnte nicht aufstehen, wollte nichts machen.

STANDARD: Haben Sie Ihren Besitz in Debrecen je zurückbekommen?

Fahidi: Nein. Als ich dort ankam, wurde ich nicht hineingelassen, ich wurde abgewiesen. Und dann kam der Sozialismus. Jetzt ist das schon ganz unbedeutend.

STANDARD: Sie arbeiten an einem neuen Buch, über den Kommunismus. Was schreiben Sie darüber?

Fahidi: Karl Marx hat mich damals, als ich bettlägerig war, aufgerichtet. Mein Onkel gab mir Das Kapital zu lesen, und ich war Feuer und Flamme. Aber: Wie so oft im Leben sind Theorie und Praxis nicht das Gleiche. Der Marxismus sieht im Leben anders aus als im Buch. Er war für mich eine große Enttäuschung. Ich dachte, wir könnten alles tun und eine gerechte Welt schaffen. Es ist anders geworden.

STANDARD: Ist es ein Buch der Enttäuschung?

Fahidi: Es wird ein Buch der Hoffnung, aber nicht im Kommunismus. Der große Irrtum von Marx betrifft die menschliche Natur. Ein Mensch will immer etwas tun, etwas schaffen und – unbedingt haben. Wenn aber das Haben kaltgestellt ist, was soll er dann schaffen? Darüber schreibe ich.

STANDARD: Ein neues "Kapital"?

Fahidi: Nein, nein, ich habe keine Ratschläge. Es geht mir auch um die Dinge, die man dabei humoristisch auffassen kann. Was wir im Sozialismus erlebt haben, das ist nicht ganz eindeutig. Das János-Kádár-Regime hat keine Fehler, sondern Sünden begangen, die man nicht verzeihen kann. Das ist sehr schwer zu ertragen, wenn man an etwas unbedingt glaubt, aber dann stellt sich das Grandiose als das Nichts heraus. Das ist mein Thema.

STANDARD: Haben Sie schon einen Titel?

Fahidi: Ja, aber er ist noch nicht fixiert: "Die Liebe – ihr Objekt und Subjekt". Ich schreibe gerne über Menschen. So viele Männer haben über den Sozialismus geschrieben, jetzt komme ich. Die Welt ist für Männer gemacht und für Menschen, die rechtshändig sind. Ich bin eine Frau, und ich finde die Welt ganz feudal. Und bin linkshändig dazu. Na, bitte (Margarete Affenzeller, 6.11.2017)