Verhandlungspause am Balkon. Von links nach rechts: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der politische Geschäftsführer von Bündnis 90 / Die Grünen, Michael Kellner, CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer und FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki.

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Die Sondierungsgespräche in Deutschland gehen voran. In der Nacht auf Freitag soll es zu einem Abschluss der Sondierungen zwischen CDU, CSU, FDP und den Grünen kommen. Einigen sich die Parteien, wird es zu einer Aufnahme von Koalitionsverhandlungen kommen.

STANDARD-Korrespondentin Birgit Baumann über Fortschritte der Verhandlungen, die Position der Grünen in einer Jamaika-Koalition, die Möglichkeiten einer Minderheitenregierung, die Neuorientierung der SPD und die Rolle der AfD im Bundestag. Ausgewählt hat die Fragen aus den STANDARD-Foren rund um die Berichterstattung zur Deutschland-Wahl Judith Handlbauer.

Handlbauer: Stehen sich die Verhandler gegenseitig im Weg, und stehen persönliche Interessen im Vordergrund?

Baumann: Ich denke, diese Erfahrung, die Poster "Titeuf" beschreibt, haben jetzt auch die Jamaikaner gemacht. Die Verhandler Wolfgang Kubicki (FDP) und Robert Habeck (Grüne) weisen darauf hin, dass die Jamaika-Verhandlungen im Frühsommer in Schleswig-Holstein so gut gelaufen sind, weil die Teams sehr klein waren. Es sind jetzt in Berlin auch nicht immer so viele Leute am Tisch. Am Anfang wollten natürlich alle Flagge zeigen. Zudem ist es ein gänzlich neues Projekt auf Bundesebene, da wollten alle ihr geballtes Fachwissen mitbringen.

Und man weiß es aus vielen Koalitionsrunden aus den vergangenen Jahren: Die schwierigen Fragen werden ohnehin nicht in so großen Runden geklärt, sondern nur in einer sehr kleinen Gruppe, bestehend aus den Chefverhandlern.

Zu Seehofer: Der hat es wahrlich nicht einfach. Er muss gute Ergebnisse nach Hause bringen, was im Fall der CSU heißt: nein zu mehr Familiennachzug, nein zum schnellen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor. Andererseits weiß er, dass auch die CSU sich bewegen muss, man muss schließlich einen Kompromiss finden. Doch es gibt genug in der CSU, die ihm Zugeständnisse in Berlin als Schwäche auslegen.

Handlbauer: Keine positiven Zukunftsprognosen für die Grünen sind in den STANDARD-Foren zu lesen. Wie schätzen Sie die Position der Grünen in den Koalitionsverhandlungen und in einer möglichen Jamaika-Regierung ein?

Baumann: Sie sind seit zwölf Jahren in Opposition, 1998 bis 2005 regierten sie mit der SPD und Gerhard Schröder. In den vergangenen Monaten haben sich Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt (die beiden Spitzenkandidaten für die Wahl also) schwer unter Druck gesetzt, indem sie ganz deutlich gemacht haben, man wolle mitregieren. Tenor: Wirklich gestalten kann man eben nur in Regierungsverantwortung.

Doch das sehen viele vom linken Parteiflügel nicht so. Sie meinen, bevor wir unsere Positionen in der Regierung verwässern, legen wir lieber in Opposition unsere klare Linie unbeugsam dar. Also geht es den Grünen ein bisschen wie Seehofer. Sie müssen Kompromisse eingehen, sonst kommen sie nicht in die Regierung. Andererseits wird bei ihnen – im Gegensatz zur Union – ein Parteitag darüber abstimmen (am 25. November), ob tatsächlich Koalitionsverhandlungen über Jamaika aufgenommen werden dürfen. Zu weit dürfen die Parteioberen auch nicht gehen, sonst legt sich die Basis quer.

Handlbauer: Welche Kompromisse und Zugeständnisse müssen die einzelnen Parteien eingehen, um eine funktionierende Regierung zu bilden und trotzdem ihre Wähler nicht vor den Kopf zu stoßen? Wird eine Jamaika-Koalition überhaupt von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert?

Baumann: Nach dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend finden derzeit 45 Prozent der Bürger eine Jamaika-Koalition gut. Anfang Oktober waren es noch 57 Prozent. Damals, kurz nach der Wahl (24. September), schien das Projekt noch neu und spannend. Doch nach wochenlangem Sondieren zeigte sich, dass das Zusammenfinden der Parteien doch sehr schwierig ist.

Das Problem: Zum Teil wollen die Beteiligten genau das Gegenteil, etwa beim Familiennachzug für Flüchtlinge. Die CSU will ihn für subsidiär Geschützte weiter aussetzen, die Grünen lehnen das ab. Wie soll hier also ein Kompromiss aussehen, ohne dass irgendjemand das Gesicht verliert.

Es heißt nun in Berlin, dass es auf folgendes Szenario hinauslaufen könnte: Jede der beteiligten Parteien bekommt irgendetwas, was ihrem Markenkern entspricht. Die Grünen etwa setzen sich beim Kohleausstieg durch, dafür kann die CSU bei der Sicherheit punkten, die CDU verhindert Steuererhöhungen und bekommt ihre "schwarze Null", die FDP darf sich mit ihrem neuen Lieblingsthema Digitalisierung schmücken.

Aber es gilt weiterhin: Solange nicht alles vereinbart ist, ist gar nichts vereinbart.

Handlbauer: Wo können sich die Parteien treffen, wo wird es wirklich schwierig in den Koalitionsverhandlungen?

Baumann: Es gibt drei Kernpunkte, die schwierig sind: Klimapolitik, Asylpolitik und Verkehr (Zukunft der Verbrennungsmotoren).

Einig ist man sich, dass Eltern einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ihrer Kinder bekommen sollen. Außerdem treten alle Parteien dafür ein, mehr Geld für Bildung und Forschung bereitzustellen. Ein weiterer Konsens: Die Bundeswehr soll besser ausgestattet werden.

Handlbauer: Was spricht gegen eine Minderheitenregierung? Welche Mehrheiten sind für Beschlüsse nötig, und von welchen Parteien könnte die Union am ehesten bei einer Minderheitenregierung Unterstützung bekommen?

Baumann: Eine Minderheitenregierung ist auch in Deutschland nicht sehr beliebt, sie gilt als instabil. Jene Minderheitenregierungen, die es in einzelnen Bundesländern gegeben hat, waren meist nicht von langer Dauer. Daher kann man sich schlecht vorstellen, dass es im Bund funktionieren könnte.

Die stärkste Fraktion (also CDU/CSU) müsste sich dann eben Partner suchen. Aber das ist nicht so einfach, denn es gibt nur eine Fraktion, die Merkel in einem punktuellen Zweierbündnis aus der Patsche helfen könnte: die SPD.

Deren Generalsekretär Hubertus Heil hat jedoch schon erklärt, man werde Merkel im Falle einer Minderheitenregierung nicht unterstützen. "Das ist in der aktuellen Lage, in der sich Europa befindet, keine Option. Es stehen wichtige Entscheidungen an, und da ist Deutschland mit ganzer Kraft gefragt und nicht mit einer halben und nur geduldeten Regierung."

An einzelne andere Fraktionen kann sich die Union nicht wenden, es würde nicht für eine Mehrheit reichen. Die Union bräuchte immer zwei Partner, wenn die SPD ausfällt. Mit der AfD und der Linken will Merkel nicht zusammenarbeiten – umgekehrt ist es genauso. Also bleibt wieder nur die Jamaika-Option.

Handlbauer: War es von der SPD klug in die Opposition zu gehen, oder wäre es ihre staatspolitische Verantwortung, wie dieser User meint?

Baumann: Man kann es verstehen. Niemand muss so lange den Juniorpartner unter Merkel geben, bis er nicht mehr existiert. Und keine Regelung schreibt vor, dass nur die stärksten Fraktionen koalieren sollen. Auf Dauer und die nächsten Jahrzehnte sollte sich die SPD nicht verweigern. Aber im Moment ist der Gang in die Opposition nachvollziehbar. Und wenn die SPD immer automatisch mitregieren sollte, braucht man eigentlich gar nicht wählen.

Handlbauer: Was braucht die SPD, um sich wieder zu stärken? Eine Debatte über Hartz 4?

Baumann: Hartz 4 ist für viele in der SPD immer noch der Sündenfall. Aber bloß eine Debatte darüber zu führen wäre zu kurz gegriffen. Eigentlich muss sich die SPD neu erfinden, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen. Das große Thema Gerechtigkeit hat, wie man gesehen hat, nicht wirklich gezogen im Wahlkampf. Viele Menschen sehen diese Gerechtigkeitslücke, von der ständig die Rede war, offenbar nicht. Sich nur um die "Armen und Schwachen" zu kümmern, das kann die SPD aber auch nicht machen, auf diesem Feld steht schon die Linke. Und die SPD möchte ja Volkspartei sein, nicht nur eine Partei, die neun Prozent bekommt. Sie braucht eine "Erzählung", die klar macht, warum sie vom Arbeiter bis zum Universitätsprofessor gewählt werden soll und warum sie besser für die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist als die Union. Aber ein solches Rezept zu finden ist sehr schwierig. 1998 hat es geklappt, weil die Menschen nach 16 Jahren Kanzler Helmut Kohl satthatten und den Wechsel wollten.

Handlbauer: Hätte die SPD bei Neuwahlen bessere oder schlechtere Chancen?

Baumann: Der Traum des Martin Schulz vom Kanzleramt wird sich wohl nicht erfüllen. Die SPD liegt ungefähr gleich wie zur Bundestagswahl, sie kann also von ihrer neuen Oppositionsrolle noch nicht profitieren, dafür ist zu wenig Zeit verstrichen. Außerdem hat Schulz einen umfangreichen Umbau der Partei angeregt, er will etwa mehr Mitspracherechte der Mitglieder bis hinauf zur Wahl des Vorsitzenden. Man weiß, dass das Zeit braucht, und diese sollte sich die SPD in der Opposition nehmen. Zudem ist eines unverändert: Die Deutschen vertrauen immer noch auf Merkel, Schulz wird nicht gebraucht, um sie zu ersetzen.

Handlbauer: Albrecht Glaser von der AfD wurde bei drei Wahlgängen nicht als Vizepräsident im Deutschen Bundestag gewählt. Der User meint, man müsse die AfD arbeiten lassen, um ihre Defizite zu zeigen. Welche Rolle wird die AfD im Bundestag spielen? Wird die Oppositionsarbeit der AfD überhaupt in irgendeiner Form von den anderen Fraktionen ernst genommen?

Baumann: Das ist eine der spannenden Fragen. Es gab ja erst eine Bundestagssitzung, da konnte man aber schon einiges sehen. Erstens: Die AfD schnupperte nicht erst einmal Bundestagsluft, sondern stellte sofort in den ersten Minuten der konstituierenden Sitzung einen Antrag auf Neuwahl des Versammlungsleiters, der von allen anderen Fraktionen abgelehnt wurde. Sie demonstrierte damit, dass sie absolut willens ist, den Bundestag "aufzumischen" und sich bemerkbar zu machen. Der Redner der AfD-Fraktion – in dem Fall der parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann – bekam von seiner eigenen Fraktion auch sehr viel Applaus. Man zeigt also, dass man präsent ist.

Formal müssen die anderen Fraktionen die AfD ernst nehmen, Rechte und Pflichten gelten im Bundestag für alle Fraktionen und Abgeordnete gleichermaßen. Inhaltlich kann man noch nicht viel sagen, die Arbeit beginnt ja erst. Vor der Wahl hat die AfD angekündigt, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um die "Rechtsbrüche" von Angela Merkel zu thematisieren. Gelingt das formal, werden sich die anderen Fraktionen mit der AfD inhaltlich auseinandersetzen müssen – mehr als im Wahlkampf.

Auffällig in der ersten Sitzung am 24. Oktober: Der FDP-Abgeordnete griff die AfD in seiner Rede inhaltlich scharf an und argumentierte gegen sie. Derlei wird es wohl öfter geben. (Birgit Baumann, Judith Handlbauer, 15.11.2017)