Die Kinderpsychiatrie des AKH. 54 Betten gibt es in Wien.

Foto: Regine Hendrich

Wien – Vor zehn Jahren wurde in Österreich das Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeführt. Seither habe man viel erreicht, sagten Vertreter der Ärztekammer bei einer Pressekonferenz am Donnerstag. Von einer flächendeckenden Betreuung aller Kinder und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen sei man allerdings noch meilenweit entfernt.

Erst seit kurzem liegen valide Zahlen über die Zahl psychisch erkrankter Minderjähriger in Österreich vor. Laut einer Studie des Ludwig-Boltzmann-Instituts und der Medizinuniversität Wien ist ein Viertel der Zehn- bis 18-jährigen in Österreich therapiebedürftig.

860 Plätze benötigt, nur die Hälfte vorhanden

170.000 Kinder und Jugendliche fühlten sich bereits einmal psychisch krank, doch stehe nur die Hälfte der 860 benötigten stationären Plätze bereit. "Im österreichischen Strukturplan Gesundheit ist die Vollversorgung verankert, und dennoch gibt es hierzulande nur 359 stationäre Betten", kritisierte Rainer Fliedl, Präsident der österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Außerdem gebe es nur 26 Kinder- und Jugendpsychiater, die einen Vertrag mit den Krankenkassen haben. Um die Vollversorgung psychisch Kranker Minderjähriger zu erreichen, bräuchte es in Österreich jedoch 106 Kassenärzte.

"Der Zugang zu medizinischer Versorgung hängt bei psychischen Erkrankungen stark vom Einkommen der Eltern ab", sagt Fliedl. "Eine finanziell gut aufgestellte Familie gibt für ihr seelisch krankes Kind um die tausend Euro im Monat aus." Ein gutes Versorgungspaket erfordere häufige Besuche bei Ergotherapeuten oder Unterstützung der Familienhilfe sowie Beratungsstunden auch für die Eltern. Viele dieser Leistungen übernehme die Krankenkasse nicht, ein großer Teil der Familien könne sich Privatleistungen aber nicht leisten.

Öfter aus einkommensschwachen Familien

Kinder von einkommensschwachen Eltern seien jedoch gefährdeter, an seelischen Störungen zu erkranken, erklärt Charlotte Hartl, Obfrau der Ärztekammer-Bundesfachgruppe des Sonderfachs Kinder- und Jugendpsychiatrie: "Es gibt einen untersuchten Zusammenhang zwischen finanziellen Ressourcen und der Häufigkeit von kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen." In einer deutschen Studie aus dem Jahr 2007 habe sich gezeigt: "Fünf Prozent Oberschicht, zehn Prozent Mittelschicht, 15 Prozent Unterschicht", so Hartl.

Charlotte Hartl ist als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Niederösterreich tätig, die Wartezeiten für Leistungen wie Logopädie und Ergotherapie würden dort ein halbes Jahr bis ein Jahr betragen. Bei Zwangsstörungen würden Kinder zwar schneller behandelt, doch oft auch nicht unmittelbar von den dafür speziell ausgebildeten Ärzten, da es auch hier Wartezeiten von bis zu einem Jahr gebe.

Kein Vertragsarzt in der Steiermark

Dabei scheint Niederösterreich mit acht Kinder- und Jugendpsychiatern mit Gebietskrankenkassenvertrag eine Vorreiterrolle zu spielen – in der Steiermark gibt es keinen einzigen. Eine STANDARD-Anfrage bei der Pressestelle der Sozialversicherungsträger dazu blieb bisher unbeantwortet.

Im Burgenland gibt es weder Therapieplätze auf Kassenbasis noch Spitalsplätze. Burgenländische Kinder und Jugendliche, die eine stationäre psychiatrische Behandlung brauchen, müssen in Niederösterreich behandelt werden. Das gestalte sich laut Fliedl in der Praxis jedoch schwierig, weil es bedeute, dass Kinder in Spitälern in einiger Entfernung von ihrer Familien behandelt werden müssen und die bundesländerübergreifende Zusammenarbeit von Jugendwohlfahrt und den regionalen Behörden Probleme bereite. Die Krankenanstaltenträger seien hier nicht bereit, Spitalsbetten zu schaffen.

Zu wenig Zeit für Patienten

Dennoch seien in den letzten Jahren viele Fortschritte gemacht worden, betont Fliedl. Vor fünf Jahren habe es in Österreich keinen einzigen Kassenarzt gegeben, jetzt wurde in Vorarlberg die Vollversorgung erreicht. Österreichweit sei hingegen ein weiterer Ausbau dringend notwendig, im Moment könne man fast nur akut versorgen. "Wir sollten endlich die Möglichkeit haben, nachhaltig zu behandeln", sagt Fliedl. Aufgrund des Mangels an Betten habe man im Spital nur sehr wenig Zeit für die einzelnen Patienten. "Wir hätten geringere Wiederaufnahmezahlen, wenn wir mehr Plätze hätten." Ein Teil der Patienten, die nach einer Behandlung erneut ins Spital kommen, lasse sich darauf zurückführen, dass es zu geringe Kapazitäten gebe.

Um genügend Plätze anzubieten, sei auch die Schaffung weiterer Ausbildungsplätze für Fachärzte notwendig. Es gebe genügend junge Ärzte, die sich für die Ausbildung interessieren.

Depression fällt weniger auf

Ein Appell wurde auch an die Eltern und das Umfeld von Kindern gesetzt: Die größte Gruppe der Patienten, die zum Kinder- und Jugendpsychiater kommen, sei mit 60 Prozent jene mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Insgesamt mache ADHS aber nur vier Prozent aller psychischen Störungen aus. Eltern von ADHS-Kindern seien viel eher und schneller bereit, für ihr Kind professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Ganz anders sehe es bei den vielen "stillen" Formen psychischer Erkrankungen aus. Zehn Prozent der Patienten würden an depressiven Störungen leiden. Diese Kinder fielen jedoch meist nicht auf und kämen daher oft erst nach dem ersten Suizidversuch in die Ordination. Das Bewusstsein dafür, dass auch Kinder depressiv werden können, sei in der breiten Bevölkerung noch viel zu wenig ausgeprägt. (Anastasia Hammerschmied, 9.11.2017)