Eine Kunstperformance, die ins Leben übergreift: "The Square" gewann die Goldene Palme in Cannes.
Foto: Filmladen

Wien – Wann helfen wir aus, und wann schauen wir, dass wir schnell weiterkommen? In seinem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film The Square entwirft der Schwede Ruben Östlund eine Versuchsanordnung, in der auf mehreren Ebenen verantwortungsbereites Handeln an seine Grenzen stößt. Claes Bang spielt den Chefkurator eines Museums für Gegenwartskunst, der ein Kunstprojekt mit ebensolcher Ausrichtung vorbereitet. Sobald ihn jedoch etwas selbst, als Privatperson, betrifft, sei es in Liebesdingen oder als Betrugsopfer, agiert er ziemlich unsouverän.

So schabt The Square nicht nur an den Fassaden einer abgeschirmten Kunstwelt, sondern auch an jenen unserer aufgeklärten Gesellschaft. Dahinter kommen Ängste und Scheinheiligkeiten zum Vorschein. Östlund ist einer der gerissensten Gegenwartsdiagnostiker des Kinos und ein formidabler Komödienregisseur obendrein.

STANDARD: In Ihren Filmen behandeln Sie gerne die Grenzen von Toleranz. Inwiefern hat dieses Interesse mit Ihrer Heimat Schweden und Ihrem engeren Umfeld zu tun?

Östlund: Beides ist wichtig. Ich bin in einer Akademikerfamilie groß geworden, meine Eltern waren Lehrer, die auch politisch engagiert waren. Meine Mutter stand ziemlich links, wenn über Gesellschaftliches geredet wurde. Aber in Schweden kann man ganz generell dieses Bedürfnis erkennen, aufeinander achtzugeben, sich richtig zu verhalten. Darüber, was man sagen darf und wie man sich benehmen solle, wird eifrig diskutiert. Ähnlich wie beim Begriff der politischen Korrektheit.

STANDARD: In Ihrer Arbeit wird die Umsetzung dieses Versuchs zusammenzuhalten dann aber eher krisenhaft ausgelegt.

Östlund: Weil mich interessiert, was passiert, wenn ein Individuum mit einem Dilemma konfrontiert wird. Wir wissen, was richtig und was falsch ist, zumindest haben wir eine klare Vorstellung davon. Dilemmata sind so schön, da man in einer Position mit zwei Alternativen endet, und keine ist einfach.

STANDARD: Man verzettelt sich in Widersprüchen?

Östlund: Am Ende gibt es keinen richtigen Ausweg. Die Person will eigentlich etwas Gutes verwirklichen, endet jedoch in einer Situation, in der sie Schlechtes tut.

Der Regisseur als Anthropologe: Ruben Östlund.
Foto: APA/AFP/LIONEL BONAVENTURE

STANDARD: Sie haben einmal erzählt, dass man Ihren Vater zum Spielen noch auf einen öffentlichen Platz geschickt hat - mit einem Schild, auf dem seine Adresse stand. Heute scheint das unvorstellbar. Haben wir als Gesellschaft unser Vertrauen in den anderen verloren?

Östlund: Unser Gefühl für soziale Verantwortung, würde ich sagen. Die Eltern meines Vaters sahen in anderen Eltern jemanden, der helfen würde. Ich hingegen würde sagen, dass ich in anderen Eltern eher eine potenzielle Gefahr für meine Kinder sehe. Und all das passiert, obwohl die Gesellschaft nicht gefährlicher wurde.

STANDARD: In "The Square" geht es unter anderem um diese künstlerische Installation einer Schutzzone, in der dieser Vertrauensverlust rückgängig gemacht werden soll.

Östlund: Das war der Ausgangspunkt, ein symbolischer Ort, an dem gemeinsame Verantwortung ausgeübt wird. Ein Ort, an dem wir auch Verantwortung auf den anderen übertragen können.

STANDARD: Es ist ein künstlerisches Projekt, das aber am Erfindungsreichtum der Realität Maß nimmt.

Östlund: Ich sehe den Platz ein wenig wie einen Zebrastreifen, auch um ihn ein Stück weit von der Kunst zu trennen. Am Schauplatz des Museums hat mich interessiert, dass es wie eine Blase funktioniert. Die Welt der Kunst ist zu ihrem eigenen Ritual geworden, eine Konvention. Als Marcel Duchamp das Pissoir ins Museum stellte, war das auch ein Akt der Provokation, er fragte: "Hey, was machen wir eigentlich?" Mittlerweile gibt es aber viele, die Objekte ausstellen, die außerhalb des Kontexts einfach keine Bedeutung mehr haben.

STANDARD: Die Kunstszene, aber auch zwischenmenschliche Vertracktheiten betrachten Sie in "The Square" durchaus satirisch. Wie wichtig ist Ihnen Humor?

Östlund: Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein wichtiges Thema zu behandeln und es dann humoristisch ins Bild zu setzen. Ich finde, Arthousekino kann sehr gestelzt sein in seiner Ernsthaftigkeit. Ich schätze Situationen, bei denen man sich fragen muss, ob es schicklich ist, darüber zu lachen – wie etwa in der Szene, in der ein Mann mit Tourette-Syndrom im Publikum einer Kunstdiskussion sitzt. Es ist großartig, gegensätzliche Welten kollidieren zu lassen.

Englischer Trailer.
Magnolia Pictures & Magnet Releasing

STANDARD: Manche Szene erinnert gar an US-Komödien und ihren Sinn für Peinlichkeiten.

Östlund: Ja, es geht um soziale Codes. Wir haben diese Vereinbarung, wie lange man auf eine bestimmte Person schauen darf, eine Sekunde mehr, und es entsteht ein Sinn für Ungebührlichkeit. Wir haben auch sehr viel Weiß in unserem Auge und können schnell sehen, ob uns jemand gerade anschaut.

STANDARD: Christian, der Kunstkurator, gerät ständig in Situationen, in denen er an Grenzen stößt. Ist er für Sie eine moralische Figur?

Östlund: Ich wollte ihn mit Situationen konfrontieren, in denen das Misstrauen siegt. Oder mit solchen, in denen eine Person etwas hergibt, dann aber etwas verlangt, was der andere nicht will. Ich sehe Kristian gar nicht als Protagonisten, sondern als Tier – so wie man in einem Naturfilm einen Büffel oder Löwen betrachten würde. Man kann für den Löwen Sympathie empfinden, selbst wenn er das Büffelkalb auffrisst.

Deutscher Trailer.
Robert Hofmann

STANDARD: Würden Sie so weit gehen, sich als Dokumentarfilmemacher zu bezeichnen?

Östlund: Absolut. Aber ich betrachte Menschen wie in einem experimentellen Labor, in dem man herauszufinden versucht, was passiert, wenn man gewisse Situationen herstellt.

STANDARD: Ein gutes Beispiel dafür ist die Dinnerszene, in der ein Mann als Affe die Gäste stört. Die Grenzen zwischen Kunst und Realität verschwimmen.

Östlund: In Medien liest man oft vom Zuschauereffekt. Menschen übernehmen nicht die Verantwortung, die man von ihnen gerne sehen würde. Sie gehen einfach weiter. Mit der Affenperformance wollte ich hervorheben, wie stark wir uns als verletzliche Tiere definieren – wenn wir auf den Vorfall auf der anderen Straßenseite nicht reagieren, geschieht das, weil wir denken: "Nimm nicht mich, nimm nicht mich ..." (Dominik Kamalzadeh, 12.11.2017)