Freiheit für die Gefangenen – das fordern Carlos García, Non Cadefau und Josep Deop (v. li.). Allerdings aus unterschiedlichen Motiven.

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Lichtermeer vor der Sagrada Família: Laut Polizeiangaben demonstrierten in Barcelona wieder 750.000 Menschen.

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Irgendwie fühlt sich Carlos García fehl am Platz. Überall katalanische Flaggen und Rufe nach Unabhängigkeit. Nein, das ist nicht seine Welt. "Ich bin Antinationalist", erklärt er. Warum er dann am Samstag auf eine Massendemo mit 750.000 Teilnehmern für ein unabhängiges Katalonien kommt? "Aus Neugierde. Und wegen des Rufs nach Freiheit für die politischen Gefangenen."

Der Aufmarsch im Herzen der katalanischen Hauptstadt ist nicht einfach einer für ein freies Katalonien: Es geht auch um die Freilassung der acht inhaftierten Mitglieder der abgesetzten Regierung und der Vorsitzenden der wichtigsten Unabhängigkeitsorganisationen; um die Einstellung der Verfahren gegen die Mitglieder des Parlamentspräsidiums; und um die straffreie Rückkehr jener fünf Regierungsmitglieder, die sich nach Belgien abgesetzt haben – unter ihnen der Regierungschef Carles Puigdemont. Ihnen allen drohen hohe Haftstrafen. Rebellion, Aufstand und Veruntreuung öffentlicher Gelder – so lauten die wichtigsten Anklagepunkte.

Politische Gefangene

"Es sind nicht die einzigen politischen Gefangenen in Spanien, auch wenn die Unabhängigkeitsbewegung so tut", erklärt García. Da seien die Basken; dann Gewerkschafter, die nach den jüngsten Generalstreiks verurteilt wurden; "und natürlich auch jene, die nach der Umzingelung des Autonomieparlaments angeklagt wurden. Sie protestierten gegen die Sparpolitik der Partei, der auch Puigdemont und ein Teil der Inhaftierten angehören", so García.

Der 64-Jährige stammt aus Asturien, hat aber sein halbes Leben in Katalonien verbracht: zuerst als Hilfsarbeiter, dann in der Indus trie, im Verlagswesen, als freier Autor ... Er hat viel gemacht in seinem Leben. García kommt in Begleitung von Non Cadefau (62), einer Ärztin, und von Josep Deop (45) von der Hafengewerkschaft.

Protest gegen Repression

Unabhängigkeit? Deop ist der Einzige der drei, der damit etwas anfangen kann. "Ich war schon immer für ein unabhängiges Katalonien", erklärt Deop, der aus einer Arbeiterfamilie stammt. "Mein Großvater kam von außerhalb und war spanischer Polizist."

Im Hafen gehört Deop mit seinen Ansichten zur Minderheit, denn "viele der Arbeiter stammen aus dem restlichen Spanien", erklärt er. Dennoch: "Auch wenn die Unabhängigkeit als solche kein Thema ist: Die Repression ist es schon", erzählt Deop. Die Hafenarbeiter beschlossen, die Hotelschiffe der damals nach Katalonien entsandten Polizisten nicht zu bedienen. Und sie nahmen am Streik teil, mit dem die Unabhängigkeitsbewegung auf den brutalen Polizeieinsatz beim Referendum am 1. Oktober reagierte.

"Über die Unabhängigkeit rede ich mit Carlos selten", erzählt Deop. Sie schwelgen lieber in Erinnerungen und erzählen sich Anekdoten. García baute einst die Gewerkschaftszeitschrift für Spaniens Hafenarbeiter auf. Deop betreute sie anschließend. Der Kampf ist seit Jahren der gleiche: die Abwehr der von Europa diktierten Liberalisierung der Branche.

"Meine Sache ist das nicht"

Der Ruf nach Unabhängigkeit ist für Deop eine "klassenübergreifende Bewegung" für ein neues, gerechteres Katalonien. García kontert: "Was interessiert es mich, ob jemand aus der gleichen Gegend kommt, die gleiche katalanische Sprache spricht wie ich?" Für ihn gehe es um den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. "Das ist meine Identität und sonst nichts. Auch wenn ich jedem das Recht auf nationale Selbstbestimmung zugestehe: Meine Sache ist das nicht." García träumt von einer Gesellschaft, die sich von unten her kollektiv organisiert. Und mit Flaggen habe das wenig zu tun.

Deop schweigt, dann gibt er zu: Es sei richtig, dass sich viele aus den Reihen des konservativen Nationalismus der Unabhängigkeitsbewegung angeschlossen hätten, doch "das Sagen hat die Straße. Wir wollen eine Republik der Menschen, einen Neuanfang bei null." Ob man das jemals erreichen werde? Deop ist sich nicht so sicher, denn "der spanische Staat hat die ganze Macht und nutzt sie".

Lichtermeer mit Handy-Taschenlampen

Mittlerweile ist es Nacht geworden. Der Demonstrationszug ist rund dreieinhalb Kilometer lang, es bewegt sich nichts mehr. Via Video ruft Puigdemont aus: "Keine Gitter, kein Exil können uns entmutigen!" Die Menge skandiert: "Presidente, presidente!", viele verwandeln mit den LED-Lampen ihrer Handys die Kundgebung in ein riesiges Lichtermeer.

"Ich war nie zuvor auf einer Demonstration der Unabhängigkeitsbewegung", erklärt Non Cadefau. Am 1. Oktober sei sie "nur aus Neugierde" zum Wahllokal gegangen. "abstimmen wollte ich eigentlich nicht". Doch als dann übers Internet die ersten Videos der brutalen Polizeieinsätze in Barcelona und anderen Städten kamen, "bin ich doch hinein". Wie sie gestimmt hat, erzählt sie nicht.

"Heute geht es um mehr", sagt die Ärztin, die sich "eigentlich nicht" für Politik interessiert. "Ich will eine gerechtere Gesellschaft. Ob das in einem freien Katalonien ist oder in Spanien, das ist mir egal." García gibt ihr recht, Deop hört zu und schweigt. Cadefau ist die einzige "waschechte Katalanin" der drei. Ihre Vorfahren stammen aus einem Tal oben in den Pyrenäen. "Warum ich dennoch nicht so richtig an die Unabhängigkeit glaube? Vielleicht weil ich so abgeschieden aufgewachsen bin, dass Francos Repression keine Rolle spielte", sagt sie.

Rajoy in Barcelona

Wenige Stunden später kommt Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy nach Barcelona, erstmals seit der Entmachtung der Regionalregierung. Für den Konservativen ist und bleibt es dabei: "Katalonien ist Spanien, und Spanien ist Katalonien." (Reiner Wandler, 12.11.2017)