Als das Deklamieren noch geholfen hat: Die Schauspielerin Anne Tismer in Samuel Becketts spätem Monolog "Tritte". Aus Anlass der Wiedereröffnung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz lässt Intendant Chris Dercon alle Mitwirkenden im Märchenbuch der Moderne blättern.

Foto: Imago / Martin Müller

Berlin – Frisch herausgeputzt präsentiert Intendant Chris Dercon – nach einem in diesem Jahr überaus rumpelig über die Bühne gegangenen Direktionswechsel – das traditionsreiche Theater am Rosa-Luxemburg-Platz. Die Bedeutung der alten, von Frank Castorf zwanzig Jahre lang geprägten Berliner Volksbühne hat sich erwartungsgemäß verschoben: das Theater plötzlich ein Museum zeitgenössischer Kunst, die Eröffnung eine Vernissage!

Dass Dercon dabei auf drei späte Werke Samuel Becketts (der selbst leidenschaftlicher Museumsbesucher war) zurückgreift, ist programmatisch. Zu besichtigen sind Werke eines radikalen, inzwischen etwas antiquierten Minimalismus. Vor abgedunkeltem Zuschauerraum – auch die Notbeleuchtung wird ausgeschaltet – sieht man nur die Bewegungen eines Mundes, ein winziges, rot blinkendes Lichtlein in der Finsternis: Becketts Nicht ich, uraufgeführt 1972 in New York. Anne Tismer leiht dem Mund für Becketts Monolog die Stimme, gehetzt hechelt sie den Text durch.

Bewusstseinsströme eines uralten Mannes

In Tritte, ebenfalls aus den 1970ern, sieht man sie dann im hellen Priesterinnengewand in genau abgezirkelten Bewegungen auf und ab gehen wie ein Metronom. Sie hält Zwiesprache mit ihrer vermutlich toten, 90-jährigen Mutter. In Becketts als Fernsehspiel konzipiertem He, Joe (1966) ist sie wieder unsichtbar, eine anklagende Stimme, die Bewusstseinsströme eines uralten Mannes (die dänische Filmschauspielerlegende Morten Grunwald) wiedergibt. Der sitzt stumm auf einem Stuhl; sein fast bewegungsloses Gesicht wird auf Leinwand gezeigt. Traditionelle Schauspielkunst oder Regie, die ein Stück nach seiner Aktualität befragen könnten, werden völlig ausgespart. Als Regisseur oder besser Restaurator hat man Walter Asmus verpflichtet. In den 1970er-Jahren war er Regieassistent Samuel Becketts, als dieser im Schillertheater selbst seine Werke modellhaft inszenierte. Auch weiterhin, so verspricht es Dercon, wird es Ziel der Volksbühne sein, große klassische Momente der Theatergeschichte zu präsentieren.

Becketts Dramen sind nur wenige Minuten lang, dennoch zieht sich der Abend mehr als drei Stunden. Umrahmt wird er nämlich von Arbeiten Tino Sehgals, der, so die Ankündigung, mit "theatralen Mitteln eine neue Form der Ausstellungskunst" entwickelt habe. Auch der zahlende Besucher soll Bestandteil der Performance ("der Situation") werden, während Sehgals Theatertruppe sich unbemerkt unter die Zuschauer mischt. So kann es passieren, dass man von einem Mitglied der Truppe in Smalltalk verwickelt wird.

Umbauten im Flackerlicht

Zu Beginn bestrahlt Sehgal mit flackerndem Licht Foyer, Bühne und Zuschauer. Die Hebebühne fährt auf und nieder, schließlich auch der riesige Luster. In den endlos langen Umbaupausen soll man durchs Haus flanieren oder in den Foyers ältere Arbeiten Sehgals oder die Videos zweier kurzer Arbeiten Becketts, Geister trio bzw. Quad I, Quad II, bewundern.

Konzentrieren kann man sich allerdings kaum. Der Lärm des vazierenden Vernissage-Publikums übertönt alles. Am Schluss noch eine "Leihgabe" aus dem Londoner Modern-Tate-Museum, dessen Leiter Dercon bis 2016 war: die fünf Jahre alte "Situation" These Associations. Sehgals Truppe nimmt zunächst den Zuschauern die Stühle buchstäblich weg, stapelt sie auf der Bühne, hastet durch den Raum, singt leise oder deklamiert kryptisch vom technischen Zeitalter. Auch steuern Mitwirkende regelmäßig einzelne Zuschauer an. Die sind ratlos. Soll man bleiben, mitlaufen, sich auf die Bühne stellen? Wird sich Neues "aus der Situation entwickeln", oder soll man sich doch besser in die Schlange am Tresen einreihen? (Bernhard Doppler, 13.11.2017)