Ein Haarschnitt, der im Archiv an Substanz gewonnen hat: Der Film "Kaputt" von Anna Irma Hilfrich erzählt von Arbeit, Migration und Familie auf reduziertem Raum.

Foto: Duisburger Filmwoche

Wenn man in nationalen Kategorien denkt, war die diesjährige Duisburger Filmwoche für Österreich ein Triumph. Drei von insgesamt fünf Auszeichnungen des dem deutschsprachigen Dokumentarfilm gewidmeten Festivals gingen an heimische Beiträge, darunter die Nachwuchs-Carte Blanche für das brillante Kurzstück Spielfeld der Filmstudentinnen Kristina Schranz und Caroline Spreitzenbart. Flavio Marchettis mit dem 3sat-Preis ausgezeichneter Dokumentarfilm über das Wiener Tierschutzhaus (Tiere und andere Menschen) läuft seit Oktober in den Kinos.

Atelier de Conversation (Arte-Preis) von Bernhard Braunstein zeigt eine Konversationsgruppe im Pariser Centre Pompidou, die von Nicht-Franzosen unterschiedlichster Herkunft zum sprachlichen und argumentativen Austausch genutzt wird. So sitzen sich Arbeitsmigranten, Studentinnen, Wissenschaftler und Flüchtlinge im Stuhlkreis gegenüber und reden über Sehnsüchte oder die Rolle der Frau: eine keinesfalls konfliktfreie Versuchsstation gleichberechtigten interkulturellen Austauschs, die in einer ausgeklügelten minimalistischen Montage präsentiert wird.

"Atelier de Conversation" von Bernhard Braunstein – Trailer
FestivaldeiPopoli

Kleines Wunder aus der Rumpelkammer

Mit seiner Verknüpfung von filmischer Form und substantiellen Sujet steht Braunsteins Film exemplarisch für eine Interpretation des schillernden (und damit Duisburg-typischen) Mottos "Wahl der Mittel". Bei den sechsundzwanzig vorgestellten Arbeiten geht das Spektrum dieser Mittel vom üppig bebilderten Künstlerporträt (Werner Nekes – Das Leben zwischen den Bildern) über Ivette Löckers familiäre Innenschau (Was uns bindet) bis zum kleinen Wunder einer aus der Rumpelkammer geholten Probeaufnahme.

Das kommt von der Filmemacherin Anna Irma Hilfrich, die vor vielen Jahren eher zufällig und spielerisch eine Haarschneide-Session mit ihrer Mutter mit dem Camcorder aufgezeichnet hatte. Sieben Jahre lag das Material im Schrank, bis Hilfrich es bei einer Recherche wieder fand. Aus dem einst Gedrehten formte sich aus der Distanz die Substanz zu einem Film, der nun (Kaputt) in der Länge eines Haarschnitts beiläufig von Arbeit, Migration, Familien und Inszenierung erzählt.

"Tiere und andere Menschen" von Flavio Marchetti – Teaser
Polyfilm Verleih

Zu groß gedacht

Manchmal sind es gerade die groß gedachten Filme, die unter das in Duisburg übliche Reflektionsniveau abfallen. In diesem Jahr war das eine TV-Produktion (ZDF/3sat), in der Judith Keil und Antje Kruska den zwischen demonstrierter Offenherzigkeit und Islamismus-Vorwürfen eingekeilten Berliner Imam Mohamed Taha Sabri porträtieren.

Inschallah ist ein Stück, das vor allem daran leidet, dass Buch und Regie auch im verminten Terrain am konventionellen Programm einer Handvoll Protagonisten festhalten, die an unsichtbarer Leine durch den Film geschleust werden. Keil/Kruska waren so sehr in ihrem Abbildrealismus gefangen, dass sie beim Gespräch geäußerte Kritik an ihrem Ansatz nur als politische Verdächtigung ihres Protagonisten verstehen konnten und abblockten.

Ein Tiefpunkt der Debatten, die in Duisburg den gleichen Raum wie die Filme einnehmen und denen auch eine Veröffentlichung gewidmet war: AusSichten. Öffentliches Reden über Dokumentarfilm heißt die lesenswerte Meta-Filmgespräch-Lektüre, in der siebzehn Autoren über das Filmgespräch jenseits von Q&A schreiben. Das dieses heute meist eher unaufgeregt und sachorientiert abläuft, mögen manche den heißen Debatten früherer Zeiten nachtrauernde Nostalgiker bedauern. Doch vielleicht ist die gemäßigte Temperatur nur einer reflektierteren filmästhetischen Bildung und abnehmendem Macho-Gehabe zuzuschreiben. (Silvia Hallensleben, 13.11.2017)