Sterneköchin Titti Qvarnström macht angehenden Jägern und Sammlern die naturverbundene Esskultur in Südschweden schmackhaft.

Foto: Torbjörn Lagerwall

Zu den Vorbereitungen gehört auch Holzhacken.

Foto: Torbjörn Lagerwall

Was kulinarisch Interessierte heute suchen, sind außergewöhnliche Erfahrungen abseits von Kochveranstaltungen: Genau das möchte man Reisenden mit dem Pure Food Camp bieten.

Foto: Torbjörn Lagerwall

Das schwedische Krebsfest Kräftskiva hat einfache Spielregeln: Panzer knacken – Trinkspruch singen – Aquavit-Glas leeren.

Foto: Torbjörn Lagerwall

Versteckt unter dem Blätterbaldachin ist die kaum 60 Kilometer von Malmö entfernte Glamping-Anlage mit ihren sieben mongolischen Jurten selbst unter den Einheimischen der Provinz Schonen ein Geheimtipp.

Foto: Torbjörn Lagerwall

Auch der Fleischwolf kommt zum Einsatz.

Foto: Torbjörn Lagerwall

Brennnesseln als Grundlage für den Brotteig.

Foto: Torbjörn Lagerwall

Das Maß aller Dinge heißt "Lagom". Egal, ob es um die richtige Menge Holzscheite für das Feuer geht oder um die Anzahl der selbstgesammelten Brennnesselsamen für den Brotteig, die Antwort unserer schwedischen Gastgeber fällt meist gleich aus. Das Wort, das sich mit "nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel", sprich "genau richtig" übersetzen lässt, ist im schonischen Wald so allgegenwärtig wie das Knistern des Feuers.

Die Feuerstellen, über denen morgens Pfannküchlein in gusseisernen Pfannen brutzeln und abends mehrgängige Menüs entstehen, bilden den Mittelpunkt von Nyrups Naturhotell. Versteckt unter dem Blätterbaldachin ist die kaum 60 Kilometer von Malmö entfernte Glamping-Anlage mit ihren sieben mongolischen Jurten selbst unter den Einheimischen der Provinz Schonen ein Geheimtipp.

Vorratskammer des Landes

Die südlichste Region Schwedens ist eine der fruchtbarsten Agrarlandschaften im Norden Europas und gilt mit ihren weiten Feldern, Weiden und fischreichen Küsten seit jeher als Vorratskammer des Landes. Während das Gros der Lebensmittel in Schweden aus Holland, Italien und Spanien stammt, zählt Schonen rund 900 kleinbäuerliche Produzenten, welche die ehemalige Wikinger-Hochburg mit regionalen Produkten versorgen und alten Bauernhöfen mit Hofläden und Biobistros neues Leben einhauchen.

Ein Mekka für Foodies, das den Vergleich mit der Provence oder Toskana nicht zu scheuen braucht, ist Lotta Ranert überzeugt. Die gebürtige Südschwedin entwickelt Gastronomiekonzepte und hat es sich zum Ziel gesetzt, das Terroir ihrer Heimat einem internationalen Publikum näherzubringen. "Was kulinarisch Interessierte heute suchen, sind außergewöhnliche Erfahrungen abseits von Kochveranstaltungen", sagt Lotta. Genau das möchten sie und Sterneköchin Titti Qvarnström Reisenden mit dem Pure Food Camp bieten.

Selbstbedienung

Pontus Dowchan bewegt sich durch Wald und Flur wie ein Koch in seiner Speis. Beim Foraging, dem Suchen und Sammeln von Zutaten in der Natur, mit dem Wildnis- und Überlebensexperten entpuppt sich bereits der Weg zum Naturhotel als Selbstbedienungsparadies. Bevor wir uns an den Kräutern und Sträuchern zu schaffen machen, mahnt Pontus zum verantwortungsvollen Sammeln: "Man muss den Lebenszyklus einer Pflanze kennen, um zu wissen, wie viel man davon ernten kann, ohne den Fortbestand zu gefährden." Die nächste "Lagom"-Lektion. Unter seiner Anleitung füllen wir Körbe mit Sauerklee, der später Zanderfilets eine feine Zitrusnote geben wird, mit Lindenblättern für einen Salat und Süßdoldenblättern fürs Dessert.

Zurück im Lager geht es an die Zubereitung des Abendessens. Neben den selbstgesammelten Schätzen stehen in der Hauptjurte, deren Zentrum ein holzbefeuerter Tischherd bildet, Körbe mit regionalem Gemüse, frischem Fisch und Milchprodukten bereit. Um die wichtigste Zutat müssen wir uns jedoch selbst kümmern: Feuer. Erst als wir die Wärme auf der Haut und den Rauch in unseren Augen spüren, gehen wir dazu über, Schlagobers in einem alten Butterfass zu stampfen, Fisch zu beizen, Schafsdärme mit Wurstbrät zu füllen, blanchierte Eicheln für vegetarische Köttbullar durch den Fleischwolf zu drehen und Teig mit Brennnesselsamen zu chapatiartigen Fladenbroten auszurollen. Gegessen wird zusammen an der großen hölzernen Tafel unter freiem Himmel, in Gummistiefeln und Funktionsjacken. Pure Dining statt Fine Dining.

Selbst jagen

Als "roh und eher rustikal", beschreibt Titti Qvarnström die Küche ihrer Heimatstadt Malmö. Mit einer elaborierten Gourmetküche wie in Kopenhagen habe diese wenig zu tun. In Malmö hat die Karriere der Küchenchefin, die 2015 als erste Schwedin einen Michelinstern erhielt, einst mit einer Kochlehre begonnen. Es war ihre Heimatverbundenheit, die Titti nach internationalen Stationen in Paris, Moskau und Berlin zurück nach Malmö zog, wo sie für das Bloom in the Park den Titel des besten Restaurants Schwedens und ein Jahr später für sich selbst den als Köchin des Jahres erkochte. Dass sich die Tochter eines Biologielehrers in der Natur mindestens so wohl fühlt wie in der Restaurantküche, ist unverkennbar. Von ihrem Vater hat die 38-Jährige neben der Faszination für Wildpflanzen und dem Interesse am Jagen auch sein Gewehr geerbt.

Verglichen mit Titti in ihrer Jagdkluft fügen wir Camp-Teilnehmer uns mehr schlecht als recht in die Runde aus Jägern ein, die wir bei der nächsten Station auf unserem kulinarischen Abenteuer, dem zum Hotel umfunktionierten Landgut Elisefarm, an einem kühlen Morgen auf Entenjagd begleiten dürfen. Daran vermag auch das traditionelle Jägerfrühstück – ein randvolles Glas Schnaps – nichts zu ändern. Die meisten von uns erleben das erste Mal eine Jagd und verfolgen mit gemischten Gefühlen, wie eine aufgescheuchte Ente nach der anderen vom Himmel fällt und anschließend von den Hunden aufgelesen wird. Die Ehrfurcht steht uns – und nicht nur den Vegetariern unter uns – noch am Übungsplatz beim Tontaubenschießen in die Gesichter geschrieben. Sie ist auch beim Mittagstisch mit den gebratenen Enten zu spüren.

Gelage ohne Maß und Ziel

Wie es aussieht, wenn die Schweden ihren geliebten goldenen Mittelweg verlassen, erleben wir am letzten Abend. "Kräftskiva in einem Restaurant zu feiern wäre unvorstellbar!", weckt Titti unsere Neugier auf das Krebsfest, das im August in ganz Schweden begangen wird. Für die Hauptzutat haben wir am Vorabend vorgesorgt und Reusen im See am Elisefarm-Anwesen ausgelegt. Beim Einholen der Körbe tummeln sich darin zig Flusskrebse, deren schlammfarbige Panzer sich beim Kochen feuerrot färben.

Die Party dauert noch keine halbe Stunde, schon ist allen bewusst, weshalb sie gewöhnlich hinter verschlossenen Gartentoren stattfindet. Eine Kräftskiva ist keine Dinnerparty, sondern ein Gelage ohne Maß und hat ein Ziel: Die Krebse müssen im Bauch schwimmen! Kaum hat man einen Panzer geknackt und den würzigen Dillsud ausgesaugt, hebt ein Gast mit Papierlätzchen und Partyhut sein Schnapsglas und stimmt eines der Trinklieder an, die jedem Schluck vorausgehen müssen. Ein Krebs, ein Lied, ein Aquavit – diesem Schema folgt die Feier bis spätnachts.

"Wir essen nicht nur mit unseren Geschmacksnerven, sondern mit all unseren Sinnen", weiß Titti. "Auch wo und mit wem wir es tun, spielt eine wesentliche Rolle." Manche Erlebnisse und Eindrücke lassen sich eben nicht in die vier Wände eines Restaurants zwängen. (Sarah Krobath, RONDO, 17.11.2017)