Niederösterreich – "Popsch nach oben, Kopf nach unten. Nicht nach links und rechts schauen. Unkraut zupfen": Im Sommer hat Rada (Name von der Redaktion geändert) Sätze wie diesen zur Genüge von ihrem Vorarbeiter gehört. Unfreundliche Kommandos waren allerdings das geringste Problem der Erntehelferin.

Arbeitstage, die früh am Morgen begannen und um 21 Uhr endeten, der geringe Lohn und eine unwürdige Unterkunft machten ihren Kollegen und ihr am meisten zu schaffen. "Ich fühlte mich wie eine Sklavin", sagt Rada zum STANDARD.

DER STANDARD

Schimmel an den Wänden

Vor allem aus der Slowakei, Bulgarien und Rumänien stammten die Erntearbeiter – in der Haupterntezeit sollen es rund 50 Personen gewesen sein –, die in kleinen weißen Häusern in einem Dorf in Niederösterreich bis Mitte November wohnten.

Rada hatte in der Produktionshalle auch in der Nebensaison Beschäftigung gefunden. Gemeinsam mit sieben anderen Frauen war sie in einem kleinen Zimmer untergebracht, vier Stockbetten standen als Schlafplätze zur Verfügung. Rada wohnte in einem Durchgangszimmer. Immer, wenn die Nachbarn auf das WC mussten, gingen sie durch den Raum.

Desolater Zustand

Bild- und Videomaterial, das dem STANDARD vorliegt, offenbart den desolaten Zustand der Räumlichkeiten: Schimmel an den Wänden, Geschirr, Kochtöpfe und Wasserflaschen liegen herum. Kleidungsstücke quellen aus den Kästen, hängen auf den Betten, sind auf den Sesseln drapiert. Im ohnehin viel zu kleinen Raum stehen außerdem noch zwei Kühlschränke.

Eine behelfsmäßig eingerichtete Küche am Gang.
Foto: privat

In der Mitte ein Plastiktisch, darauf steht ein Strauß Rosen. Die Blumen und zwei große Teddybären sind die einzigen Lichtblicke in dieser Tristesse. Die Teddys haben die Arbeiterinnen für die Kinder zu Hause gekauft. Pu der Bär liegt im Bett einer Erntehelferin. In der oberen Etage des Stockbetts bietet das große Stofftier eine Möglichkeit, sich vor Blicken zu schützen.

Desolate Sanitäranlagen

Ein kaputtes WC und eine "Dusche" – dabei handelt es sich um einen angeschlossenen Duschkopf und eine Duschtasse – befinden sich in einem winzigen Raum. Schmutzig, desolat, heruntergekommen. So lässt sich das "Badezimmer" am besten beschreiben, das sich auf den Bildern darstellt. Sich über die Zustände beim Chef zu beschweren hätte keinen Sinn gehabt, erzählt Rada. "Der hat uns nicht einmal gegrüßt."

WC und Dusche in der Arbeiterunterkunft.
Foto: privat

Wie Arbeitsunterkünfte auszusehen haben, ist gesetzlich geregelt. Der bereitgestellte Wohnraum muss den Anforderungen der Gesundheit und der Sittlichkeit und den baupolizeilichen Vorschriften entsprechen. Die Einrichtung muss bestimmte Kriterien erfüllen, zum Beispiel muss es versperrbare Schränke geben. Und sie darf nicht gesundheitsgefährdend sein.

Bauer räumt Fehler ein

Der Bauer räumt im Gespräch mit dem STANDARD ein: Ja, er habe in dieser Saison Erntearbeiter in den oben dargestellten Räumlichkeiten untergebracht, allerdings nur 20. Die Gebäude hätten keinen Keller, davon komme die Feuchtigkeit an den Wänden. Etwa zehn Jahre lang wurden die Objekte laut Auskunft des Bauern von seinen Mitarbeitern bewohnt. Letzte Instandsetzungsarbeiten seien im Februar 2016 durchgeführt worden.

Schimmel an den Wänden der Arbeiterunterkunft.
Foto: privat

Die Jahre davor habe man das Gebäude immer im Winter renoviert, etwa die Wände neu gestrichen. 2016 sei dann die Entscheidung gefallen, für die Mitarbeiter eine neue Unterkunft zu suchen, und man habe von weiteren Renovierungsarbeiten abgesehen. Im Zuge der Recherchen des STANDARD siedelte der Bauer seine Mitarbeiter in die neue Unterkunft um. Seit Mitte November sollen dort keine Menschen mehr wohnen.

Problematische Arbeitsbedingungen

Neben der Unterkunft litt Rada auch unter den Arbeitsbedingungen. Im Sommer, wenn die Hitze draußen auf dem Feld brütete, sei kein einziges Mal frisches Wasser gebracht worden. Das morgens in Flaschen abgefüllte und in Alufolie eingewickelte Wasser war spätestens zu Mittag brühwarm.

Foto: privat

Die Mittagspause wurde üblicherweise auch auf dem Feld abgehalten, in der Sommerhitze, ganz ohne Schattenspender. Einfallsreichtum sei gefragt gewesen, wenn man auf den weiten Feldern auf die Toilette musste. Dem hält der Bauer im Gespräch mit dem STANDARD entgegen: Auf den größeren Feldern habe es sehr wohl mobile Toiletten gegeben. Und: Im nächsten Sommer will er schattenspendende Planen auf den Feldern aufstellen. Zudem dauere ein Arbeitstag in seinem Unternehmen von 7.30 bis 17 oder 18 Uhr.

Arbeitsrechtliche Vorwürfe

1.350 Euro, so viel bekam Rada von ihrem Chef zur Monatsmitte bar auf die Hand. Einen Arbeitsvertrag habe sie nie gesehen, ihr Stundenlohn sei bei fünf Euro gelegen, sagt Rada.

Wie viel Erntehelfer mindestens verdienen müssen, ist in den Landarbeitsordnungen geregelt und unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland. In Niederösterreich müssten pro Stunde mindestens 6,27 Euro netto und 1.086,25 Euro bei einer 40-Stunden-Woche bezahlt werden.

Überstunden, 13. und 14. Monatsgehalt habe man ihr nicht ausreichend abgegolten, so Radas Verdacht. Monat für Monat habe sie zwei Zettel unterschreiben müssen. Was sie unterschrieb, wusste Rada allerdings nicht. "Was auf den Zetteln stand, wurde abgedeckt. Wir mussten einfach nur dort unterschreiben, wo der Chef ein X gemacht hat."

Bauer entkräftet Anschuldigungen teilweise

Der Bauer sagt zu den Vorwürfen, er habe stets gemäß Kollektivvertrag bezahlt, auch das Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Außerdem weist er die Anschuldigung zurück, dass er bei der Geldübergabe Blankounterschriften verlangt habe. Auf die Frage, wie hoch der Stundensatz der Erntehelfer ist, sagt der Bauer: "Es gibt keinen Stundensatz, es gibt nur einen Monatslohn." Und: Arbeitsverträge seien tatsächlich nicht ausgehändigt worden.

Keine Überraschung für die Gewerkschaft

Bereits im Jahr 2014 hat die Produktionsgewerkschaft die "Sezonieri"-Kampagne ins Leben gerufen, als Reaktion auf die verheerenden Bedingungen, unter denen viele Erntearbeiter beschäftigt werden. Erntearbeiter aus Tirol machten damals mit Protesten und Kündigungen auf ihre missliche Lage aufmerksam. Seither versucht die Gewerkschaft die Saisonarbeiter gezielter zu informieren und bietet auch muttersprachliche Beratung an. Viele Betroffene können weder Deutsch, noch sind sie mit der Gesetzeslage vertraut.

Offiziellen Zahlen zufolge hatten Ende Juni 2015 von den 29.697 in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten 17.287, also fast 60 Prozent, keine österreichische Staatsbürgerschaft.

"Gewerbsmäßiger Betrug"

Der Fall in Niederösterreich ist kein Einzelfall. Das weiß René Schindler zu berichten, Jurist bei der Produktionsgewerkschaft. Während früher Erntearbeiter oft schwarz beschäftigt wurden, werden sie heute oft Teilzeit angemeldet und müssen weit über das gesetzlich zulässige Maß (höchstens zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche in einem begrenzten Zeitraum) arbeiten.

Auf engem Raum in Stockbetten sind die Saisonarbeiter untergebracht.
Foto: privat

Überstunden, Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld werden oft nicht bezahlt. "Die Leute werden um ganz viel Geld systematisch bestohlen. Das ist gewerbsmäßiger Betrug", sagt Schindler. Erst kürzlich hätten sich zwei in Wien tätige Erntearbeiter bei ihm gemeldet.

Die Betroffenen hätten dreieinhalb und später vier Euro pro Stunde bekommen, obwohl der Mindestlohn für Landarbeiter in Wien bei 6,09 Euro netto liegt. Als sie um das 13. und 14. Gehalt ersuchten, hieß es, so etwas gebe es in Österreich nicht. Neben der Missachtung des Arbeitsrechts moniert Schindler auch, dass Arbeitgeber oft beim Arbeitnehmerschutz und technischen Schutzvorrichtungen sparen: "Das sind osteuropäische Standards mitten in Österreich."

Gewerkschaft erstritt Löhne

Dass Saisonarbeiter im Obst- und Gemüsebau Belege unterschreiben müssen, die nicht den Tatsachen entsprechen, sei mehrfach Gegenstand von Gerichtsverhandlungen gewesen, die die Gewerkschaft begleitet hat, sagt Schindler. Im Jahr 2016 hat die Gewerkschaft für 21 Erntehelfer und Erntehelferinnen Klagen bei Gericht eingebracht. Erstritten wurden 68.000 Euro. "In praktisch jedem Fall wurde der vorher bezahlte Lohn mehr als verdoppelt. Der höchste Betrag in einen Einzelfall lag bei 7.000 Euro", erzählt Schindler.

Die zuständige Kontrollinstanz für landwirtschaftliche Betriebe in Niederösterreich ist die Landwirtschafts- und Forstinspektion. In ihrem Tätigkeitsbericht aus dem Jahr 2016 verzeichnete sie 411 sogenannte Betriebsstätten-Übertretungen, 15 davon betrafen das Arbeitsvertragsrecht.

Jeweils eine Beanstandung galt dem Thema "Entgelt und Urlaub" und dem Thema "Dienstvertrag", fünf Beschwerden gab es zu Unterkünften und acht hinsichtlich der Aufzeichnungspflichten. Die Behörde erteilte in allen 411 Fällen Aufträge zur Herstellung des rechtmäßigen Zustands. In keinem einzigen Fall wurde von der Behörde ein Sofortbescheid, ein Strafantrag oder eine Strafanzeige veranlasst. Zum gegenständlichen Fall will sich die Inspektion nicht äußern. (Katrin Burgstaller, 30.11.2017)