Im Spektakel wird Komplexität dem Effekt geopfert: Martin Luther wird 500 Jahre nach seiner Kritik am Pomp der Kirche in einem "Poporatorium" abgefeiert. Samt tausendköpfigem Laienchor.

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Beschrieb "Die Gesellschaft des Spektakels": Guy Debord.

Foto: Edition Tiamat

Wien – Wenn Burschenschafter mit Skirennläufern verhandeln, gehe es um Spektakel, nicht um die Sache. Christian Kerns dieser Tage geäußertes Urteil über Koalitionsverhandlungen, bei denen er in die Rolle des Zuschauers versetzt wurde, mag im Anschluss an seine Erkenntnis erfolgen, wonach Politik zu "95 Prozent aus Inszenierung" bestehe. Es mag auch dem Groll darüber geschuldet sein, einen Wahlkampf er- oder besser überlebt zu haben, in dem Argumente und Programm der teils künstlich gesteuerten Erregung über Facebook-Schmutzseiten geopfert wurden. Der Begriff des Spektakels, den der SPÖ-Chef unbewusst oder auch gezielt bedient, steht im linken Theoriegebäude allerdings für weit mehr als eine auf Marketing optimierte politische Gegnerschaft.

Vor genau 50 Jahren lieferte der französische Philosoph und Künstler Guy Debord anhand des Begriffs eine radikale Zeitdiagnose, die mit den Jahren an Plausibilität gewinnt statt verliert. Das Buch Die Gesellschaft des Spektakels erschien 1967 – am Vorabend der Pariser Studentenrevolten, die es maßgeblich beeinflusste. Ein Traktat von 221 Thesen, gerichtet ebenso gegen den westlichen Kapitalismus wie gegen die Pervertierung der kommunistischen Idee im Ostblock. Mit der Schrift wollte Debord, damals 37, seiner in den 1950er-Jahren gegründeten Künstlergruppe der Situationistischen Internationale eine theoretische Grundlage geben.

Ersatzreligiöser Warenfetisch

Die Situationisten, Bohemiens im Anschluss an Camus und Sartre, hielten Dadaismus und Surrealismus als Endpunkte der modernen Kunst hoch und postulierten mit Hegel, Marx und Anarchismus im Gepäck das Ineinanderfallen von Kunst und Leben in der klassenlosen Gesellschaft. Künstlerisch hieß das, jede ökonomische Verwertung zu scheuen, den Prozess, den Akt, das unmittelbare Erleben dem handelbaren Produkt vorzuziehen: Fluxus, Aktionismus, Performance und Konzeptkunst folgten dem ebenso wie sprachkritische Literatur oder später die Subkultur des Punk.

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Den Feind hatte Debord in seinem Buch abstrakt benannt und damit sichergestellt, dass die Theorie die Jahrzehnte überdauern würde: "Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln." "Alles", so Debord, "was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung gewichen." An die Stelle des Seins sei der Schein getreten. Aus Teilnehmern werden Zuschauer, die sich passiv ihren von Massenmedien befeuerten "Pseudobedürfnissen" hingeben. Das Spektakel sei "der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion". So gesehen zeigt sich der religiöse Warenfetisch heute beispielhaft in den Clubs, wo der leuchtende Apfel der Macbooks als Monstranz am DJ-Pult präsentiert wird.

Interessant erscheint auch, wie die Religionen selbst mit den Spektakeln verfahren. 500 Jahre nachdem Martin Luther gegen die Schein-Heiligkeit Roms, gegen Ablasshandel, Pomp und Lebensferne einer entfremdeten Kirche zu Felde gezogen ist, aber auch Umstrittenes von sich gegeben hat, wird ihm in Mehrzweckhallen mit "Poporatorien" gehuldigt, in denen tausende gleichgewandete Laiensänger die ihnen vorgelegten Texte singen dürfen. Papst Franziskus forderte hingegen jüngst, ähnlich wie zahlreiche Stadionstars, man möge doch die Smartphones beim gemeinsamen Spektakel besser wieder einstecken und "real" am Geschehen teilnehmen.

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Die Entwicklung des Digitalen konnte Debord – der sich 1994 nach langer Krankheit das Leben nahm – nur in ihren Anfängen erahnen: In seinen 1988 erschienenen Kommentaren, in denen er das Spektakel-Buch noch einmal auf den Prüfstand stellte, beklagte er etwa, dass "Schüler mühelos und begeistert mit dem absoluten Wissen der Computer beginnen, während sie zunehmend das Lesen verlernen" würden, ortete ein "noch junges", den heutigen "Fake-News" nicht unähnliches "Konzept der Desinformation"; oder sprach von einer Zunahme der Überwachungstechniken.

Debords Thesen können auch als frühe Anklage gegen die zerstreuenden Mechanismen des Internets, insbesondere der Social-Media-Netzwerke, gelesen werden. Der Konsument wisse im Zeitalter des Spektakels allzu oft nicht mehr, was wirklich wichtig ist. Letztlich kann auch das Unbehagen, das bei Hashtag-Kampagnen von #JeSuisCharlie bis #MeToo mitschwingt, mit dem Begriff des Spektakels erfasst werden: Vereinfachung und Verallgemeinerung, exponentiell befeuerte Schnellgerichte, Trittbrettfahrer, die in der plötzlich auftretenden Empörungswelle ihre Hashtag-relevanten Produkte vermarkten. Dass Topmodel-TV-Shows mit #BeABrand oder Fitnessstudios mit #MachDichWahr kampagnisieren, fällt im Netz der unterkomplexen Verschlagwortung kaum noch jemandem auf.

Die Plattform Instagram steht mit ihrer Fixierung auf visuelle Reize und dem Hang zum schönen Schein mittels Fotofilter der radikalen Ästhetik der Störung, die Debord bei seinen Avantgardefilmen anwandte, diametral entgegen. Im April wurde Instagram Ort einer äußerst ironischen Vergegenwärtigung der Theorie des Spektakels: Das durch prominente Instagrammer heftig beworbene Fyre-Luxus-Musikfestival auf einer Bahamas-Insel mit Ticketpreisen zwischen 1000 und 25.000 Dollar entpuppte sich vor Ort als Desaster und wurde abgebrochen. Schein und Wirklichkeit lagen meilenweit auseinander.

Revolution und Kritik

An der Haltbarkeit seiner Thesen "über das Ende des Jahrhunderts hinaus" bestand für Debord kein Zweifel. Ein Abbremsen des spektakulären Siegeszuges durch sanfte Gegenbewegungen wie etwa Subkulturen erschien ihm aussichtslos. Persönlich zwar zuletzt dem ökologischen Landleben freundlich gesinnt, forderte er doch stets vage die eine oder vielmehr permanente Revolution. Dieses Beharren brachte ihm Kritik von reformistischer Seite ein. Dass Umwelt- und Sozialbewegungen, die Rückkehr der Do-it-yourself-Mentalität und analoger Technik oder das Bedürfnis nach Entschleunigung auch Erfolge zeitigen, bleibt bei Debord ein blinder Fleck. Als progressiver Kulturpessimist wollte er im Kampf gegen das Spektakel nicht zurück zu Natur und alten Werten, sondern nach vorne ins Unbekannte.

SPÖ-Chef Kern wird Letzteres nun als Zuschauer definieren müssen. Die Lehre, dass 95 Prozent Inszenierung den fünf Prozent Inhalt gefährlich werden können, dürfte er im Wahlkampf schmerzlich erfahren haben. (Stefan Weiss, 16.11.2017)