Wien – "Die Hauptfigur des Films, so sagt man, denn beweisen lässt es sich nicht, leidet an Wahnvorstellungen, sie sieht Dinge, die nicht da sind." Möglicherweise sei das der Grund, schreibt Jörg Kalt in seinem Buch Mögliche Filme über David Lynchs postmodernes Verwirrspiel Lost Highway, warum dessen Geschichte nicht nachvollziehbar sei. Und warum sie sich in einem Kopf abspiele, der nach Verlassen des Kinosaales nicht mehr uns gehöre.

Wer die Wahrheit spricht, muss nicht recht behalten: Philipp Hochmair und Birgit Minichmayr in "Tiere" von Greg Zglinski.
Foto: Polyfilm

Vieles an Jörg Kalts Drehbuch für Tiere, das der vor zehn Jahren durch Freitod aus dem Leben geschiedene Autor und Filmemacher hinterlassen hat, erinnert an diese Notiz. Birgit Minichmayr und Philipp Hochmair spielen in dem nun vom polnisch-Schweizer Regisseur Greg Zglinski realisierten Film ein Paar in der Krise, das diese mit einer mehrmonatigen Auszeit in der Romandie zu überwinden versucht.

Anna, eine Autorin, möchte ein neues Buch schreiben; Nick, ein Koch, neue Rezepte mit nach Hause bringen. In der Zwischenzeit ist in der Wiener Wohnung über ihnen auch hoffentlich Nicks Affäre mit der Nachbarin endgültig zu Ende gegangen. Merkwürdig ist allerdings, dass die Bekannte (Mona Petri), die sich währenddessen um die Wohnung kümmern soll, der Geliebten zum Verwechseln ähnlich schaut. Und später jener Eisverkäuferin in der Schweiz, die auf Nick ein Auge werfen wird.

Blessuren und Rezepte

Doch für die aus dem Alltag Flüchtenden scheinen die Dinge bereits während der Fahrt nicht gut zu laufen: Erste kleine Störungen tauchen auf, gefolgt von Missverständnissen und Missstimmungen. Manchmal reden Anna und Nick aneinander vorbei, ihre Antworten passen nicht zu den Fragen, bis schließlich ein Ratespiel mit Tiernamen zur ersten Katastrophe führt: Nick überfährt ein Schaf. Während er unverletzt davonkommt, zieht sich Anna eine Blessur am Kopf zu.

Das ist jedoch nur das grobe Erzählgerüst, auf dem Zglinski die mysteriöse Vorlage Kalts in einen noch mysteriöseren Film verwandelt hat. Immer dichter verweben sich Wahrheit und Illusion: Warum findet Anna Nicks gesammelte Rezepte bereits gedruckt in einem Kochbuch? Steht hier ein neuer Betrug im Raum? Warum glaubt Anna nach zwei Wochen, erst einen Tag im Chalet verbracht zu haben? Vielleicht spielt eine Gedächtnislücke ihr einen bösen Streich, vielleicht aber auch Nick mit ihr ein böses Spiel.

Polyfilm Verleih

Sukzessive dreht Zglinski an der Schraube der Verwirrung. Die Erzählung wartet immer dann, wenn man die Lösung vor Augen zu haben glaubt, mit einer neuen Volte auf. Es ist eine Desorientiertheit, die sich mit Reverenzen an Hitchcock und Lynch langsam, aber umso unausweichlicher ausbreitet. Die doppeldeutigen Zeichen – geheimnisvolle Türen, unheilvolle Verwechslungen – verdichten und überschreiben sich in einem fort.

Zglinski will Tiere definitiv als Traum verstanden wissen, als die große Möglichkeit des Kinos zur Imagination, und lässt den Film wohldosiert in Richtung Albtraum abgleiten. Und hat das Ergebnis doch zu keinem Horrorstück werden lassen, sondern zu einem surrealen Konvolut aus ineinanderfließenden Bildmotiven und narrativen Miniaturen. Zu einer Versuchsanordnung, die sich lustvoll zugleich stets aufs Neue zerstört.

Dass ihm dies gelingt, ist nicht zuletzt das Verdienst von Philipp Hochmair und Birgit Minichmayr, die einander vortrefflich ergänzen – und herausfordern. Wem man hier letztlich Glauben schenken will, ist keine Frage einer endgültigen Wahrheit, sondern der Selbstvergewisserung als Zuschauer: "Das Auge lenkt das Hirn", schreibt Jörg Kalt, "und, wenn der Film Glück hat, auch die Seele." (Michael Pekler, 16.11.2017)