Alison Frank Johnson ist Professorin für Geschichte an der Harvard University.

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Die #MeToo-Debatte der vergangenen Wochen hat auch vor den Universitäten nicht haltgemacht.

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STANDARD: Im Zuge der #MeToo-Debatte sind in vielen verschiedenen Bereichen Vorfälle zum Vorschein gekommen – auch an den Universitäten. Welche speziellen Machtgefüge herrschen dort vor, die zu sexuellen Übergriffen führen können?

Johnson: Es gibt in den USA diesbezüglich einen großen Unterschied zwischen Undergraduate Students (Bachelorstudierende, Anm.) und Graduate Students (Masterstudierende und Doktoranden, Anm.). Graduate Students, vor allem Doktoranden und Doktorandinnen, arbeiten sehr eng mit den Lehrenden zusammen und sind auf diese stark angewiesen – nicht nur, um ihre Forschung voranzutreiben, sondern auch, um Kontakte zu knüpfen. Ein weiterer Aspekt ist die nicht besonders klare Grenze zwischen dem Privaten und dem Professionellen. Das betrifft zwar nicht nur Universitäten, ist aber für sie sicherlich charakteristisch: Es kommt oft zu Gesprächen unter vier Augen, die Arbeit zieht sich oft bis in den Abend hinein, die Menschen reden auch im privaten Umfeld über ihre Arbeit.

STANDARD: Sie waren an der Harvard University daran beteiligt, Richtlinien zu formulieren, die gewährleisten sollen, Studierende vor sexueller Belästigung zu schützen. Worauf ist dabei geachtet worden?

Johnson: An der Harvard University haben wir die Definition sexueller Belästigung im akademischen Jahr 2014/2015 neu formuliert. Jede Abteilung der Universität hatte dabei die Möglichkeit, ihre Policy neu zu formulieren. Bei der Fakultät für Arts and Sciences haben wir Richtlinien formuliert, die Beziehungen zwischen Personen mit unterschiedlichem Uni-Status regeln.

STANDARD: Was schreiben diese Richtlinien vor?

Johnson: Sexuelle Beziehungen zwischen Professoren und Undergraduate Students werden generell untersagt. Beziehungen zwischen Personen mit anderem Uni-Status werden unter bestimmten Umständen verboten – zum Beispiel zwischen Lehrenden und Graduate Students, wenn diese in irgendeiner Form eines Betreuungsverhältnisses zueinander stehen. Man kann also als Professor oder Professorin kein Verhältnis mit Studierenden haben, die man zum Abschluss führt. Auch Graduate Students dürfen keine Beziehung mit Undergraduate Students eingehen, wenn sie diese betreuen. Wir als Lehrende sollten Mentoren für die Studierenden sein und in ihnen nicht potenzielle Sexpartner sehen. Indem man all diese Richtlinien ausformuliert, schafft man Erwartungen und eine Sprache für Studierende, die ihnen hilft, zu verstehen, was angemessen ist und was nicht. Es ist eine vorausschauende Policy, die sagt: Wir wollen, dass niemals jemand in eine Situation gerät, in welcher er oder sie Quidproquo-Belästigungen ausgesetzt ist.

STANDARD: Welche Auswirkungen konnten Sie beobachten, seit diese Regelungen in Kraft getreten sind?

Johnson: Ich bin nicht dafür zuständig, diese Richtlinien zu implementieren, aber ich bemerke definitiv, dass das Bewusstsein für dieses Thema steigt. Es kommen immer wieder Studierende zu mir, um meinen Rat oder meine Unterstützung einzuholen – für sich selbst oder für andere Betroffene. Die Erwartung, dass Menschen, die Vorfälle melden, ernst genommen werden, hat sich sehr verstärkt.

STANDARD: In den USA gibt es an Unis eine viel stärkere Debatte über "Trigger-Warnings" und "Safe Spaces" als in Europa. Was, denken Sie, ist der goldene Mittelweg zwischen Sensibilität auf der einen Seite und Infantilisierung von Studierenden, die im Fall von Trigger-Warnings ja oft unterstellt wird, auf der anderen?

Johnson: In einer Gemeinschaft von Menschen, wo auf das mentale Wohlbefinden Wert gelegt wird, ist es wichtig, auf Themen sensibel zu reagieren, die andere verletzen könnten. Ich glaube aber auch, dass wir nicht darum herumkommen, Themen zu unterrichten, die verstörend sind. Ich unterrichte zum Beispiel den Kolonialismus oder den Holocaust – das sind wirklich extrem verstörende Bereiche der Geschichte. Wir können es uns sicher leisten, sensibel zu sein und unsere Studierenden zu ermutigen, dass sie Unterstützung in Anspruch nehmen, wenn sie diese brauchen. Wir können aber nicht aufhören, diese Themen zu unterrichten.

STANDARD: Hat es Sie überrascht, dass im Zuge von #MeToo auch an den Universitäten so viele Fälle publik geworden sind?

Johnson: Nein. Wir sprechen ja nicht von einem plötzlichen Ausbruch sexueller Belästigungen im Jahr 2017. Die Fälle, die nun publik werden, liegen Jahre, manchmal Jahrzehnte zurück. Es ist jetzt ein Moment gekommen, in dem Frauen, Männer und Menschen anderen Geschlechts an die Öffentlichkeit treten, um von Dingen zu berichten, mit denen andere Personen jahrzehntelang davongekommen sind. Das Verhalten sexueller Belästiger ist nichts Neues. Neu ist aber der Mut von Betroffenen, mit diesen Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen. Es gibt jetzt eine Solidarität zwischen Frauen, die sexuell belästigt, und Frauen, die vergewaltigt worden sind. Alle betroffenen Frauen, Männer und Menschen anderen Geschlechts sagen nun gemeinsam: All das ist nicht akzeptabel. Es liegt nun an den Universitäten, das Vertrauen in sie zu stärken und glaubwürdig zu vermitteln, dass Betroffene, wenn diese sich melden, auch ernst genommen werden. (19.11.2017, Tanja Traxler)