Stephen Morrissey 2017 live irgendwo in den US-amerikanischen Weiten der Mehrzweckhallen: Narzissmus als Heilsprogramm.

Foto: Sam Rainer / Monika Stolarska

Wien – Im Wesentlichen kann man sich einen Zyniker als enttäuschten Idealisten vorstellen. Wer es nicht schafft, rechtzeitig mit Frustrationen umzugehen, wird es im späteren Leben schwer haben, ein ausgeglichenes Leben zu führen und Freunde zu finden. Das sagt die Psychologie nicht nur in der Küche. Sie vertritt das auch im Hörsaal und in der Praxis.

Natürlich wissen wir alle, dass man aufgrund der Verhältnisse schier verzweifeln könnte. Sie sind leider nur selten so, dafür meist anders. Für die Magensäure und den Blutdruck ist es auf Dauer trotzdem nicht gut, wenn man sein Erregungspotenzial ständig bis an die Grenze ausschöpft.

Der britische Provokationskünstler Stephen Morrissey schuf aus dem Unvermögen, mit Enttäuschungen umzugehen, in den frühen 1980er-Jahren von Manchester aus trotzdem große Kunst. Als Sänger des kreativ gemeinsam mit Gitarrist Johnny Marr betriebenen Quartetts The Smiths verdichtete er sein Leiden an der Welt zu wunderbaren Alben wie Meat Is Murder oder The Queen Is Dead.

Morrissey – Spent the Day in Bed.
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Weltschmerz, Depression, Trostlosigkeit und Verzweiflung wurden zu galligen Außenseitertexten verdichtet. Damit das alles nicht in gegen die Wand gefahrenes, wenngleich literarisch geschultes Hassgebrüll ausartete, wurden die Lyrics mit hübschen, melancholischen Melodien und interessanterweise weitgehend unaggressiv gezupften Gitarren konterkariert. Die große Politik, die Ungerechtigkeit auf der Welt, die Schlechtigkeit und Verkommenheit der Leute nahm Morrissey schon damals immer rein persönlich und reagierte darauf tüchtig egozentrisch. Was man heutzutage gern wieder zu vergessen bereit ist: Kunst muss natürlich nicht moralisch und schon gar nicht politisch korrekt sein.

Nach nur fünf Jahren brachen die Smiths 1987 selbstverständlich im Streit auseinander. Seine Solokarriere startete Morrissey unter musikalisch etwas zünftigeren Vorzeichen. Breitbeinig gespielte Rockgitarren wollen bis heute nicht so recht zur dramatisch zwischen Anklage, Hohn und ironisch gebrochener Verzückung wechselnden Intonation passen, die sich relativ unbeschwert über alle Höhen und Untiefen der Songs schwingt. Sein Album Morrissey ... You Are The Quarry von 2004 bleibt mit Ausnahme von Ringleader Of The Tormentors von 2006 zumindest während der letzten zwei Jahrzehnte qualitativ unerreicht.

Schweinerock und Aluhut

Das elfte Soloalbum Morrisseys trägt nun den Titel Low In High School. Musikalisch dominiert die gewohnt schwere Hausmannskost mit blutig gebratener Schweinerockgitarre und tüchtig Schlagzeugbeilage. Ab und zu wird als Zwischengang aber auch ihm besser zu Gesicht stehendes Balladeskes zum Besten gegeben.

Morrissey – I Wish you Lonely.
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Über die Jahre hat sich Morrissey als eines erwiesen: Er ist Wutbürger, beleidigte Leberwurst, Kampfvegetarier, Monarchiehasser, Brexit-Befürworter, Selbstgerechtigkeitsfanatiker, Gegner der "Masseneinwanderung" in Großbritannien inklusive rassistischer Untertöne sowie unter dem Aluhut dampfender Verschwörungstheorien. Vor allem in Interviews mit britischen Medien fungiert er als gern eingesetzte Allzweckwaffe für hohe Zugriffszahlen.

Dass der 58-Jährige in den neuen Liedern allerdings nun reichlich infantil in ewiger Selbstaufopferung am Altar seiner Eitelkeit neben Medienkritik (My Love, I'd Do Anything For You) und Weltflucht (Spent The Day In Bed) die Nahostproblematik und den "Krieg ums Öl" in den Liedern The Girl From Tel-Aviv Who Wouldn't Kneel oder Israel nun auch verstärkt künstlerisch ins Spiel bringt, mindert das ebenso über die Jahre geringer gewordene Vergnügen, Morrissey zu hören, doch etwas.

Besonders peinlich wird es textlich im Stück In Your Lap. Arabischer Frühling trifft auf zynische Kuschelmaus mit Johannistrieb: "The people sing / When the warlords all burn / Do not feel sad/ It's simply their turn / They tried to wipe us / Clean off the map / And I just want my face in your lap."

Mit The Smiths wäre ihm das damals (noch) nicht passiert, dem alten wirren Zausel. (Christian Schachinger, 17.11.2017)