Schlangen vor den Geldausgabeautomaten in Venezuelas Hauptstadt Caracas.

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Puebla – 16 Jahre nach der Zahlungsunfähigkeit Argentiniens steht Lateinamerika erneut vor einer Staatspleite: Der Erdölstaat Venezuela ist mit 150 Milliarden US-Dollar im Ausland verschuldet und hat bereits große Teile seiner Erdölproduktion, seiner Goldreserven und Aktiva verpfändet, um liquide zu bleiben. Die Deviseneinnahmen aus der verbleibenden Erdölproduktion reichen nicht aus, um gleichzeitig die Auslandsschulden zu bedienen und die für die Versorgung der Bevölkerung nötigen Medikamente und Lebensmittel zu importieren. Venezuela hat weniger als zehn Milliarden US-Dollar Reserven in der Zentralbank und seine Goldreserven bereits größtenteils an die Schweiz verpfändet. Das Land steckt in einer Rezession und Hyperinflation. Spätestens 2018, so Finanzexperten, dürfte der Staatsbankrott unausweichlich sein.

Der Default kündigt sich seit dem Absturz der Erdölpreise 2014 an. Das Land zahlte seine Schulden immer schleppender zurück. Es wäre der bislang größte Zahlungsausfall in Lateinamerika. Doch im Gegensatz zu Argentinien befindet sich der von Sozialisten regierte Erdölstaat mitten in einem geopolitischen Machtpoker. Während die Finanzmärkte bereits "selektiven Default" einiger Bonds verzeichnen, halten zwei der wichtigsten Gläubigerstaaten, Russland und China, weiterhin an ihrem Partner fest. Mit Russland unterzeichnete die Regierung von Nicolás Maduro jetzt einen Umschuldungsplan über drei Milliarden US-Dollar. China erklärte seinerseits, Venezuela habe zugesagt, seine Schulden zu bedienen, und lasse den Worten Taten folgen.

Geschenke statt Lösung

Eine Runde mit den privaten Gläubigern, denen Venezuela rund 50 Milliarden schuldet, verlief am Montag dagegen ergebnislos. Nach einer halben Stunde verließen die etwa 100 Investoren die Runde mit Geschenktüten voller venezolanischer Schokolade und Kaffee, allerdings gab es in Sachen Staatsschulden "kein Angebot, keine Konditionen, keine Strategie, nichts", so einer der Teilnehmer. Vizepräsident Tareck El Aissami habe eine Brandrede gegen die Finanzspekulanten der Wall Street gehalten und gegen die von der US-Regierung verhängten Sanktionen auf Geschäfte mit Venezuela, aber beteuert, Venezuela werde seine Schulden weiter bezahlen.

Allein schon seine Person ist problematisch. El Aissami steht auf der Liste der von der US-Regierung gesuchten Drogenbosse, jede Abmachung mit ihm ist daher strafbar. Der Großteil der rund 450 privaten Gläubiger sind in den USA ansässige Hedgefunds. Für sie waren venezolanische Bonds wegen des hochverzinsten Risikoaufschlags lange attraktiv. Die auf Staatspleiten spezialisierten Fonds hoffen, bei Umschuldungsverhandlungen noch satte Gewinne herauszuschlagen.

Kein Zugang zu Märkten

Kurz zuvor hatte Venezuela mit einiger Verzögerung Ausstände auf Bonds der staatlichen Erdölfirma PDVSA und des Stromunternehmens Corpoelec bezahlt. Dieses Chaos hat nach Ansicht des Wirtschaftsexperten Francisco del Toro System: "Umso undurchsichtiger der Markt, umso größer die Chance für regierungsnahe Insider, damit Geld zu machen oder zu waschen", schrieb er in seiner Publikation Caracas Chronicles. Durch die Panik an den Finanzmärkten, so das Kalkül, hätten venezolanische Geschäftsleute die PDVSA- und Corpoelec-Bonds billig gekauft, von denen sie wussten, dass die Regierung sie doch noch begleichen werde.

Venezuela steht vor turbulenten Zeiten. Mit dem "selektiven Default" ist dem Land der Zugang zu internationalen Märkten verschlossen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat zwar schon einen Rettungsplan über jährlich 30 Milliarden US-Dollar ausgearbeitet – doch der wäre an grundlegende marktwirtschaftliche Reformen und drastische Sparauflagen geknüpft. Das hätte wahrscheinlich den Machtverlust der Sozialisten zur Folge. Hinzu kommt, dass Venezuela in den USA Aktiva besitzt, wie eine Erdölraffinerie, betrieben von der staatlichen Tochterfirma Citgo, die von Gerichten beschlagnahmt werden könnte.

Atempause für Maduro

Andererseits würde Maduro durch das Aussetzen der Schuldenzahlungen finanziell kurzfristig Luft bekommen. Das Geld, das durch den Export von täglich knapp zwei Millionen Fass Öl hereinkommt, könnte er dann statt für den Schuldendienst für Importe verwenden. So könnten die zur Opposition übergelaufenen Wähler zurückgekauft werden, um die anstehenden Gemeinde- und Präsidentschaftswahlen ohne massiven Betrug wie bei den vergangenen Regionalwahlen zu gewinnen.

Venezuelas Default dürfte dafür in die Wirtschaftslehrbücher eingehen, wie es durch verfehlte Wirtschaftspolitik gelingt, einen Erdölstaat finanziell zugrunde zu richten. In den zwei Jahrzehnten Erdölsozialismus ging ein beispielloser Dollarregen auf Venezuela nieder. Das Land nahm über eine Billion US-Dollar ein. Viel Geld diente dazu, ein regionales Netzwerk linker Verbündeter aufzubauen, etwa durch billige Erdöllieferungen an Staaten der Karibik und Mittelamerikas oder durch Wahlkampffinanzierung linker Verbündeter. Mit einem weiteren Teil wurden teure, unter Korruptionsverdacht stehende Vorzeigeprojekte finanziert wie eine Brücke über den Orinoco-Fluss. Mindestens 300 Milliarden, so Schätzungen des linken Ex-Gouverneurs und Buchautors Carlos Tablante, versickerten in Steuerparadiesen.

Spekulationswelle

Die von der Regierung vorgenommenen Verstaatlichungen endeten in unproduktiven oder mit pleite gegangenen Firmen und verfehlten ihr Ziel, die Wirtschaft zu diversifizieren. 96 Prozent aller Devisen erwirtschaftet Venezuela durch Erdölexporte. Die zur Kontrolle der Finanzströme eingeführten Devisen- und Preiskontrollen knebelten die Privatwirtschaft und schufen immense Anreize zur Spekulation. (Sandra Weiss aus Puebla, 17.11.2017)