Reinhold Messner, 1944 in Brixen geboren, setzte als Kletterer, Bergsteiger und Grenzgänger immer Maßstäbe. Er bestieg als Erster alle 14 Achttausender, durchquerte Grönland, den Osten Tibets, die Antarktis und die Wüste Gobi.


Foto: Simen Zupancic

STANDARD: Sie erzählen die gescheiterte Antarktisdurchquerung von Ernest Shackleton aus der Sicht des Abenteurers Frank Wild. Warum dieser Perspektivwechsel?

Messner: Shackleton ist der Held dieser Geschichte. Als die Endurance in den Eisschollen zerbarst und sich die Mannschaft auf Elephant Island rettete, segelte er mit fünf Männern in einem winzigen Rettungsboot über das offene Meer, um Hilfe zu holen. Über zwei Wochen kämpften sie gegen die stürmische See, bis sie endlich Südgeorgien erreichten. Die anderen Expeditionsteilnehmer tauchten in dieser Erzählung nur als Zahl auf. Aber wie überlebten diese 22 Männer auf der winzigen Insel den antarktischen Winter? Was machten sie durch in Kälte, Sturm und Dunkelheit, nur geschützt von zwei umgedrehten Rettungsbooten? Dass Frank Wild hier ein Wunder vollbrachte, wurde bisher ausgeblendet.

STANDARD: "Nicht wir, nur das Schiff ist am Ende", lassen Sie Wild sagen, als die Endurance im auftauenden Eis zermalmt wurde und die Mannschaft sich auf eine Eisscholle retten musste. Kann man das sagen, wenn kaum Überlebenschancen bestehen?

Messner: Das ist ein Schlüsselsatz. Hätte Wild nicht die Fähigkeit gehabt, seine Hoffnung und sein Vertrauen millionenfach vergrößert an die anderen weiterzugeben, wären sie nicht am Leben geblieben. Sie wussten ja nicht, wo Shackleton war. Er hatte versprochen, vor Einbruch des Winters zu ihrer Rettung zurückzukehren. Aber er kam nicht. Nachdem sie einen Monat lang gewartet hatten, mussten sie annehmen, er sei bei der Überfahrt verunglückt. Aber wenn alle verzweifelten, betonte Wild immer, Shackleton habe versprochen zu kommen, und wenn er in diesem Jahr nicht komme, werde er im nächsten Jahr kommen. Wild konnte die Hoffnung aufrechterhalten.

STANDARD: Wer war dieser Wild?

Messner: Wild war Seefahrer und elf Jahre lang auf den Weltmeeren unterwegs. Da erfuhr er von einer britischen Expedition in die Antarktis. Er meldete sich und wurde genommen. Leiter dieser Expedition auf der Discovery war Robert Scott. 1902 erreichten die Männer das Südpolarmeer. Im McMurdo-Sund wollten sie den Winter verbringen und im Sommer zum Südpol aufbrechen. Die Antarktis war damals noch unerforscht. Für Wild war diese erste Expedition eine entscheidende Erfahrung. Zum einen freundete er sich mit Shackleton an, der sich an Bord befand. Zum anderen zeigte sich seine Fähigkeit, in schwierigen Situationen richtige Entscheidungen zu fällen.

STANDARD: Wild war nur ein einfaches Mitglied der Mannschaft.

Messner: Das stimmt. Er bekam auch keine besonderen Aufgaben übertragen. Der Dreiergruppe, mit der Scott und Shackleton Richtung Pol marschierten, gehörte er nicht an. Gemeinsam mit anderen musste er Erkundungsgänge ins Eis unternehmen. Auf einem dieser Märsche geriet die Gruppe in einen Blizzard. In Nebel und Schneetreiben verloren einige die Orientierung. Als sie nicht mehr zu sehen waren, befahl der Leiter der Gruppe, stehen zu bleiben und zu warten, während er sich auf die Suche machte. Als Soldaten der Royal Navy folgten sie dem Befehl. Wild aber tat das einzig Richtige, und zwar gegen den Befehl. Er forderte die Männer auf, mit ihm zurück ins Lager zu gehen. Minus vierzig Grad kann man nur aushalten, wenn man sich bewegt. Wild brachte es fertig, dass die anderen ihm vertrauten und folgten.

STANDARD: "Wie, bitte, geht Überleben?", lautet die große Frage inmitten eisiger Kälte. Sie nennen nur psychische Eigenschaften. Sind das die wichtigsten?

Messner: Ja. Menschenführung hat mit Empathie zu tun. Frank Wild konnte sich in jeden hineinversetzen und dessen Ängste und Verzweiflung nachempfinden. Damit erwarb er Vertrauen, das stärkte seine Zuversicht und Willenskraft.

STANDARD: Sie nennen Fantasie ...

Messner: Wer Fantasie hat, dem eröffnen sich mehr Chancen zu überleben, als wenn einer nur dumpf auf seiner Pritsche liegt und den Tod erwartet. Auf Elephant Island war es beinahe so weit. Wild aber hielt die Männer an, immer etwas zu tun. Solange man etwas zu tun hat, sind die Ängste gemindert. Deswegen hatten es Wild und die Männer auf Elephant Island viel schwerer als Shackleton auf dem Meer. Wenn man nichts als warten kann und nicht weiß, ob man je in ein bürgerliches Leben zurückfinden wird, wachsen die Ängste mit jedem Tag.

STANDARD: "Alle Hoffnung ist verschwunden ... das Vertrauen ins Überleben aufgegeben ...", liest Wild in Scotts Tagebuch. Starb Scott, weil er die Hoffnung verloren hatte, nachdem Amundsen ihm am Pol zuvorgekommen war?

Messner: Darüber können wir nur spekulieren. Keiner, der dabei war, überlebte. Sicher ging es Scott nicht um Amundsen. Sein Rivale war Shackleton. Bereits auf der Discovery-Expedition hatte diese Rivalität begonnen. Beim Losfahren wusste Scott nicht einmal, dass Amundsen zum Südpol unterwegs war. Erst in Neuseeland fand er ein entsprechendes Telegramm vor. Seine Vorbereitungen hatte er begonnen, als Shackleton von seiner Nimrod-Expedition zurückgekehrt war. Shackleton hatte am 9. 1. 1909 in Begleitung von Wild fast den Pol erreicht. Er wurde als Held gefeiert. Ihn wollte Scott übertreffen. Das wird auch aus seinem Tagebuch deutlich. Jetzt habe er Shackleton geschlagen, vermerkte er, als er 100 Kilometer über den Punkt hinaus war, an dem Shackleton umkehren musste.

STANDARD: Wie Sie schreiben, war es Wild gewesen, der Shackleton veranlasst hatte umzukehren ...

Messner: Sonst hätte Shackleton denselben Blödsinn gemacht wie Scott. Er wäre weiter, obwohl alle erschöpft waren und zu wenig Nahrungsmittel hatten. Den Rückmarsch hätten sie vor Einbruch des Winters nicht mehr geschafft.

STANDARD: War es der einbrechende Winter, der Scott auf dem Rückmarsch aufhielt?

Messner: Scott erreichte am 17. Januar 1912 den Pol. Das war viel zu spät. Er hätte umkehren müssen. Amundsen hatte bereits am 4. Dezember 1911 den Pol erobert. Zweifellos war es für Scott eine Enttäuschung, als er feststellen musste, nur Zweiter geworden zu sein. Auf dem Rückweg brachen er und seine Begleiter immer mehr ein. Sie waren ermüdet von den Strapazen und fanden die Depots nicht rechtzeitig. Nach zwei Toten schafften sie es zu dritt bis auf zwanzig Kilometer an das Ein-Tonnen-Depot heran.

STANDARD: Warum hatte Scott keine Kraft mehr für diese zwanzig Kilometer?

Messner: Das ist die Frage. Shackleton und Wild hatten bei der Rückkehr von ihrem Marsch Richtung Pol auch das Problem, dass ihnen die Zeit davonlief. Am 28. Februar marschierten sie den ganzen Tag hindurch und legten 60 Kilometer zurück. Das muss man sich vorstellen! Sie hatten nichts mehr zu essen, waren total erschöpft. Aber sie standen die Strapazen durch. Ich vermute, dass Scott nicht mehr weiterwollte. Er wusste, dass sie nicht überleben konnten. Also inszenierte er das Sterben. Er hatte erfrorene Füße und Hände. Aber er schrieb bis zum letzten Augenblick alles auf. Das Tagebuch wurde ein Weltbestseller. Scott war der tragische Held. Seine Darstellung strahlte über alles hinaus. Sie rief auch Shackleton wieder auf den Plan. Als er von dem Tagebuch erfuhr, entschied er, erneut in die Antarktis aufzubrechen. Da der Pol erobert war, plante er die Durchquerung.

STANDARD: Shackleton scheiterte an diesem Vorhaben bereits im Ansatz, als die Endurance im Eis zerborsten war. Hatte er Pech?

Messner: Shackleton hatte keine Chance. Eine Durchquerung war mit den damaligen technischen Möglichkeiten nicht realisierbar.

STANDARD: Sie haben die Antarktis selbst 1989/90 durchquert ...

Messner: Wenn ich nicht dort gewesen wäre, hätte ich nicht darüber schreiben können. Shackleton und Wild sind mir völlig vertraut. Ich habe das Gefühl, bei ihren Abenteuern dabei zu sein. Was ich erzähle, ist erlebt – von Wild, Shackleton und mir.

STANDARD: Viele Eigenschaften, die Wild und Shackleton auszeichneten, sind im normalen Leben wichtig. Wie ist es zu erklären, dass weder Shackleton, der dem Alkohol verfiel, noch Wild als Farmer in Afrika ein gelingendes Leben hatte?

Messner: Beide waren unfähig, ein bürgerliches Leben zu führen. Nur wenn sie mit dem Rücken zur Wand standen, waren sie in der Lage, sich maximal zu fordern und etwas zu vollbringen, was kein normaler Mensch schafft. In der Antarktis hatten Wild und Shackleton gelingendes Leben ohne Ende.

STANDARD: "Gelingendes Leben ist nie und nirgends umsonst zu haben", lassen Sie Wild sagen. Was ist der Preis?

Messner: Der totale Einsatz. Dieser Satz kommt aus meiner Erfahrung. Ich muss meinen Träumen und Ideen mit Besessenheit folgen. Nur im Hier und Jetzt während der Umsetzung von Ideen gibt es gelingendes Leben. Die ersten, die in die Antarktis aufbrachen, hatten als Forscher einen Auftrag. Aber der stand nie im Vordergrund. Sie wollten alle nur zum Pol. Als der Pol erobert war, hatte Shackleton die Idee zur Durchquerung. Wir Abenteurer leben davon, dass wir uns immer neue Ziele ausdenken. (Ruth Renée Reif, Album, 19.11.2017)