Wien – Zwei Umstände sind es, die den Mordprozess gegen Shirshah M. so ungewöhnlich machen: die Tatwaffe und die Folgen für das Opfer. Dem 25-Jährigen wird ein Mordversuch an seiner Partnerin vorgeworfen: Er soll der drei Jahre jüngeren Frau mit seinem Regenschirm ins rechte Auge gestochen und dabei ihr Gehirn verletzt haben. Das schier Unglaubliche: Die Frau hat dadurch keine Dauerfolgen erlitten – das Auge wurde nicht beschädigt, auch die Verletzungen im Gehirn wirkten sich bisher nicht negativ aus.

"Die Spitze ist ideal eingedrungen", drückt es der medizinische Sachverständige Christian Reiter gegenüber dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Eva Brandstetter aus. Der Stichkanal zeige vom äußeren Augenwinkel rechts unten nach links oben, eineinhalb bis zwei Zentimeter sei der Parapluie im Auge gesteckt und habe das Augenhöhlendach durchbrochen, Knochensplitter hätten dann zwei fingernagelgroße Wunden im Gehirn verursacht.

Angeklagter spricht von Unfall

Dass er Frau A., mit der er nach islamischem Recht verheiratet ist und ein gemeinsames Kind hat, verletzt hat, gibt der Angeklagte zu. Aber: Es sei ein Unfall gewesen. Zunächst will die Vorsitzende etwas über seine Vorgeschichte wissen. Geboren wurde der Unbescholtene in Afghanistan, als er drei Jahre alt war, kam seine Familie mit ihm in den Iran. Im September 2011 kam er alleine nach Österreich. "Es hieß damals, dass alle Afghanen abgeschoben werden", sagt der anerkannte Flüchtling.

Wie es M. in Österreich gegangen ist, fasst der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann zusammen: "Er hat keinen Beruf gelernt, konnte sozial nie Fuß fassen und lebt von der Wohlfahrt." Der Angeklagte habe "eine Neigung zu Alkohol und Cannabis, aber nicht in einem Ausmaß, dass man von einer Abhängigkeit sprechen könnte".

Vor zweieinhalb Jahren lernte er dann Frau A. kennen, die ein Kind aus einer früheren Beziehung mitbrachte. Einerseits sagt er, die Beziehung sei gut gewesen. Andererseits, das Paar habe in den zwei Wochen vor dem Tattag, dem 21. Mai, nicht mehr miteinander gesprochen.

"Mein Leben war ziemlich eintönig"

"Mein Leben war ziemlich eintönig. Ich habe ihr damals auch gesagt, dass ich eigentlich noch nicht bereit zum Heiraten bin, auch das Kind ist passiert", erinnert sich der Angeklagte. Am Tattag ging er gegen 13 Uhr außer Haus, um sich mit Freunden zu treffen, man trank ein wenig, gegen 22.30 Uhr kam er wieder retour.

"Ich war so angefressen auf mein eigenes Leben, ich wollte die Frau provozieren", erzählt er nun. Er habe daher in Gegenwart des Opfers einen Freund angerufen und gesagt, er wolle in eine Disco gehen. Als die Frau im Scherz zur fünfjährigen Tochter sagte, die solle sich anziehen, man gehe mit in die Disco, habe er einen Wutanfall bekommen und sein Handy gegen die Wand geschmissen.

Die Frau und das ältere Kind verließen die Wohnung, er habe sich entschuldigen wollen und sei ihnen nachgegangen. Draußen traf er nur die Tochter, die er zurückschickte. Auch er kehrte um und traf im Stiegenhaus auf seine Frau. "Das Ganglicht ist ausgegangen, ich habe ihr gesagt, sie soll zurück in die Wohnung gehen", schildert er. Dabei habe er mit dem Regenschirm in seiner Hand nach oben gedeutet.

Opfer soll stumm geblieben sein

"Haben Sie nicht bemerkt, dass Sie sie dabei getroffen haben?", will Beisitzerin Sonja Weiss wissen. "Ich schwöre bei Gott, ich habe es nicht bemerkt!", lässt der Angeklagte übersetzen. "Was hat Ihre Frau gemacht? Geschrien? Was nicht unverständlich wäre, wenn man einen Schirm ins Aug bekommt", merkt Vorsitzende Brandstetter an. Der Angeklagte will nichts gehört haben. Dass ein Nachbar, der die Polizei verständigte, sehr wohl Schreie gehört hat, könne nicht sein.

Er sei jedenfalls danach weggelaufen und am nächsten Vormittag in der Halle des AKH aufgewacht. Er verbrachte den Tag in einem Park in Meidling, am Nachmittag kam er zurück zur versperrten Wohnung, im Westbahnhof wurde er von der Polizei erwischt.

Bei der Polizei hat die verletzte Frau eine ganz andere Geschichte erzählt. M. habe sie und die Tochter schon in der Vergangenheit immer wieder geschlagen, in der Tatnacht habe sie gekocht, als M. nach Hause kam. Er habe mit einem Fußtritt ansatzlos den laufenden Fernseher zerstört, dann sei es zum Telefonat mit anschließender Handyvernichtung gekommen.

Erst Ohrfeige, dann Stich

Die Szene im Stiegenhaus schilderte sie so: Der Angeklagte habe ihr zunächst eine Ohrfeige gegeben, die ihr den Kopf herumwarf, als sie ihn zurückdrehte, habe sie noch gesehen, wie er mit dem Regenschirm auf sie einstach.

Der Auftritt des Opfers verläuft dann allerdings anders als gedacht. Sie bestreitet ihre Aussagen bei der Polizei. Sie hätten eine gute Ehe geführt, Gewalt habe es nie gegeben. Dass sie im Stiegenhaus "Schlag nicht!" gerufen habe, stimme auch nicht. Und womit er sie getroffen hat, habe sie auch nicht gesehen, sie habe plötzlich etwas im Auge gehabt. Sie hält einen Unfall für durchaus plausibel.

Staatsanwältin Sabine Rudas-Tschinkel macht die Zeugin ernst auf die Gefahr einer Anklage wegen falscher Zeugenaussage aufmerksam, die junge Frau bleibt dabei. Ihre detaillierten Angaben bei der Polizei habe sie nie gemacht, der Dolmetscher müsse das falsch verstanden haben. "Wollen Sie die Beziehung weiterführen?", fragt die Anklägerin. "Derzeit habe ich keine Absicht, mich zu trennen, aber auch nicht, mit ihm zusammenzukommen", lautet die Antwort.

Absichtliche schwere Körperverletzung

Die Geschworenen verneinen einstimmig die Mordabsicht, an einen Unfall glauben die Laienrichter aber auch nicht. Sie sprechen M. wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung mit sechs zu zwei Stimmen rechtskräftig schuldig. Die Strafe: drei Jahre Haft, dem Opfer muss er 8.140 Euro Schmerzensgeld zahlen. (Michael Möseneder, 17.11.2017)