Kern (Mitte-links) und sein niederländischer Amtskollege Mark Rutte (Mitte-rechts) beim Spazierengehen.

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Göteborg – Die Einigkeit verriet die Unverbindlichkeit dahinter: Als die Staats- und Regierungschefs Europas am Freitag im schwedischen Göteborg die Proklamation zur europäischen "Säule sozialer Rechte" präsentierten, war es ein feierlicher Akt, eine den guten Willen unterstreichende Geste, ein Durchbruch aber war es nicht.

Die Erklärung ist symbolisch von großer Bedeutung, ganz konkret jedoch verändert sie zunächst einmal: so gut wie gar nichts. Der neue Leitfaden für die Stärkung der sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger Europas besteht aus 20 Grundsätzen und passt auf 22 Seiten Kleinformat. Sie handeln von Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, fairen Arbeitsbedingungen und Sozialschutz.

Das Dokument ist ein "Kompass", wie es im Text heißt – eine "Richtschnur", die den Schwerpunkt auf die Beschäftigungs- und Sozialfragen setzt, um für mehr Stabilität zu sorgen und die Wirtschafts- und Währungsunion zu vertiefen.

Es waren hehre Ziele, über die in Göteborg über parteipolitische Grenzen hinweg Einigkeit herrschte – einzig: Letztlich sind sie rechtlich wirkungslos. Europas Sozialpolitik fällt nicht unter EU-Kompetenz, sondern ist Aufgabe der Nationalstaaten. Brüssel bleiben in diesem Feld weitgehend die Hände gebunden. Auf EU-Ebene können Mindeststandards gesetzt werden, ansonsten gilt weitgehend der Grundsatz der Subsidiarität, die EU kann also nur nachrangig eingreifen. Dass der Sozialgipfel dennoch gefeiert wurde, hing damit zusammen, dass er überhaupt auf die Beine gestellt wurde.

20 Jahre hat es gedauert

Im November 1997 hatte es sich die EU eigentlich schon zum Vorhaben gemacht, einmal im Jahr ein informelles Treffen zu organisieren, das sich vorrangig der Sozial- und Beschäftigungspolitik in der Union widmet. 20 Jahre später war es nun in Göteborg so weit. Zwar ging es am Rande auch um den Brexit – im Zentrum aber stand nun erstmals die soziale Stütze der Union, die am Freitag Realität wurde.

Österreichs Noch-Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) sprach von "einem ersten positiven Schritt", denn das Entscheidende sei, dass die "soziale Agenda jetzt ganz oben auf der Prioritätenliste" stehe. "Wenn Europa nicht ein Europa ist, das die Menschen schützt, das allen eine Perspektive auf Wohlstand gibt, dann wird Europa scheitern", sagte Kern.

Eine Angleichung der Verhältnisse von Finnland bis Zypern würde eine Änderung der Regelwerke erfordern, was die Kommission bisher ausgeschlossen hat. Zwar mahnte Juncker ein, dass die vereinbarte Säule "nicht einfach eine Aufzählung frommer Wünsche" bleiben dürfe. Am Ende kündigte er jedoch nur an, künftig gezielt Empfehlungen abgeben zu wollen, um den sozialen Zusammenhalt in Europa zu stärken.

Bei aller parteipolitisch übergreifenden Einigkeit, die in Göteborg im Vordergrund stand, herrscht in der Frage, wie weit die EU nun auch auf sozialer Ebene zusammenrücken soll, nämlich alles andere als Einigkeit.

Zu groß sind in einigen Staaten die Rückstände bei Gehalts- und Lohnsprüngen, zu groß die Sorgen in anderen Ländern, ihre hohen Standards nach unten nivellieren zu müssen. Zu klein erscheinen die Schnittmengen, die eine weiter ausgebaute Sozialunion ermöglichen würden.

"Koalition der Willigen"

Während sich etwa Kanzler Kern hinter die Reformpläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gestellt und eine "Koalition der Willigen" gefordert hat, um die sozialen Säulen der Union zu diskutieren, geht sein vermutlicher Nachfolger im Amt eher in die entgegengesetzte Richtung: Sebastian Kurz (ÖVP) wünscht sich prinzipiell mehr Subsidiarität, auch in sozialen Fragen.

Dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wegen der Sondierungsgespräche "bei einem so wichtigen Thema" nicht nach Göteborg kommen konnte, nannte Kern "bedauerlich": "Ich würde mir wünschen, dass die ausgestreckte Hand Macrons bei den Koalitionsverhandlungen ergriffen wird." (Anna Giulia Fink aus Göteborg, 17.11.2017)