Empörung allein reicht nicht, um tiefverwurzelte, strukturbedingte Ungleichheit zu bekämpfen.

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Seit vier Jahren schreibe ich beruflich über Filme. Das heißt, ich werde dafür bezahlt, meine geschulte Wahrnehmung eines Leinwandwerkes in treffende Worte zu fassen. Dabei muss ich versuchen, mich in eine Geschichte fallen zu lassen und mich in jede einzelne Figur hineinzuversetzen, ihr Verhalten nachzuvollziehen, ihre Motive zu hinterfragen. Jedes.

Bei einer Pressevorführung sitze ich jüngst im Wiener Haydn-Kino und warte auf den Beginn des Films, als sich zwei männliche Kollegen in die Reihe vor mir setzen. Sie lassen, wie üblich, einen Platz zwischen sich frei und scherzen darüber, den anderen während des Filmes nicht berühren zu wollen, es könnte ja sexuelle Belästigung sein. Einer von ihnen steht noch einmal auf, entledigt sich des schweren Mantels und wirft ihn mit Schwung über den Sitz, dabei berührt der Mantel mein Knie. Ich bin geneigt, eine ebenso dämliche Bemerkung zu machen; und tue es. Vermutlich weil ich eine wohlwollende Reaktion vorhersehe, wahrscheinlicher, weil der spontane Witz nicht nachdenkt und Nachdenken eben genau das ist: immer hintennach, immer einen Schritt zu langsam.

Immer hintennach

Mir scheint, dass heutige Online-Diskussionen ähnlich wie solche Witze funktionieren: Sie suchen Bestätigung, schaukeln sich gegenseitig hoch, versuchen den anderen zu übertrumpfen, haben dabei keine Zeit, allzu lange nachzudenken, weil die Pointen aus der Emotion des Moments entstehen und nur teilhaben kann, wer schnell genug ist. Ich fühle mich seltsam befangen wegen des Kommentars mit dem Knie, irgendwo ertappt, und versuche zu hinterfragen, warum man sich im Kreise des eigenen Geschlechts über das andere lustig macht und ein ernstes Thema mit Witzen kommuniziert. Ein Grund ist offensichtlich: Witze sind befreiend. Ein tieferer Grund: Sie überspielen Ängste.

Eine verfranste, unstrukturierte Debatte über Sexismen, Belästigung und sexuelle Gewalt birgt nun aber die Gefahr in sich, den eigentlichen Fokus zu verlieren und in einer sturen Lagerbildung die Geschlechter weiter zu entzweien, statt aufeinander zuzugehen. Solange Frauen überwiegend unter sich debattieren und "typische" Männerreaktionen deren Empörungen nur belächeln, haben die #MeToo-Offenheiten in der Gesellschaft nichts bewirkt. Insbesondere die mediale Verlagerung von einer Machtstrukturdebatte hin zur emotionalen Fallsammlung sexueller Belästigungen schwächt den Aufschrei mehr, als sie ihm hilft. Empörung allein reicht nicht, um tiefverwurzelte, strukturbedingte Ungleichheit zu bekämpfen, im schlimmsten Falle festigt sie sogar, woran sie zu rütteln wagt – eine digitale Erkenntnis, die sich politische Machtmänner seit Jahren zu eigen machen, welche kalkulierte Massenempörungen auf perfide, unangenehme, äußerst erfolgreiche Weise für sich nützen.

Aufschrei der Opfer ist wichtig

Hysterie und Verallgemeinerung hilft aber eben nicht, um triebhaftes Fehlverhalten in Zukunft zu verhindern und zukünftige Opfer vor einer Machtausübung zu bewahren; vor einem plötzlichen Ausgeliefertsein an die Situation, das nicht, niemals, in keiner Welt verharmlost werden kann, weil es immer furchtbar sein wird. Der Aufschrei der Opfer ist wichtig, wichtiger wird aber seine Folge sein, nicht über kurz, sondern über lang. Die Befürchtung eines Trends, der keine Dauer kennt, ist nur dann berechtigt, wenn diejenigen ignoriert werden, die ebenso für eine bessere Zukunft verantwortlich sein müssen: die "typischen" Männer. Die Nichtopfer, die Machos, die Zyniker, die Possenreißer, die Unvernünftigen. Denn eine Debatte, die sich nicht ernsthaft für die Gegenseite interessiert, muss einseitig bleiben und damit gefährlich banal, unreflektiert, ungenügend.

Gerade das Kapitel der sexuellen Belästigung scheint hierbei die geschlechtlichen Fronten zu verhärten und von beiden Seiten mit Sturheit verfasst zu werden. In diesem Kontext wiederholen sich immer wieder Männerreaktionen wie "Man darf gar nichts mehr sagen", "Ist ein Kompliment jetzt auch schon Belästigung?" oder "Ich traue mich gar nicht mehr, allein mit einer Frau im Lift zu fahren". Solche Reaktionen können natürlich von Frauenseite als hirnrissiger Schwachsinn und verzerrendes Chauvinistengetue abgetan werden. Vielleicht sind sie das auch. Diese Reaktionen jedoch pauschal abzuwürgen und sich deshalb über "solche" Männer nur zu echauffieren ist schlussendlich genauso stur und unproduktiv wie der selbstgefällige Meinungsreflex, ein FPÖ-Wähler sei ein Idiot. Denn diese Reaktionen sind da.

Sexuelles Ausgeliefertsein

Hinter ihnen liegt vielleicht Unwissenheit, Angst (egal ob berechtigt oder unberechtigt), doch diese Angst ist da, und Ängste zu ignorieren endet meist fatal. Es ist eine kollektive Unsicherheit, die in vielen Männerköpfen herrscht und sich mitunter in schlechter Überspitzung, verharmlosenden Witzen und hilflosen Simplifizierungen äußert. Ich kann mich nicht davon ausnehmen, möchte es nicht, will einfach sagen, dass es für viele Männer ebenso schwer sein kann, die weibliche Schilderung eines sexuellen Ausgeliefertseins zu verstehen, wie es für eine Frau frustrierend sein kann, dass ein Mann sie scheinbar gar nicht verstehen möchte.

Ein erster Schritt wäre es, gegenseitiges Verständnis zuzulassen und miteinander zu reden anstatt nur nach- oder nebeneinander. Eine verständnisvolle Annäherung der Geschlechter hin zu einem respektvollen System der Gleichheit kann nur funktionieren, wenn beide Seiten aufeinander zugehen. Dafür wäre es hilfreich, sich in jede einzelne Position hineinzuversetzen, ihr Verhalten nachzuvollziehen, ihre Motive zu hinterfragen. Jedes. (Constantin Schwab, 17.11.2017)