Meisterpädagogen stellen sich der Öffentlichkeit durch eine öffentliche Unterrichtsvorführung, ähnlich einer Habilitation.

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Der Münchener Philosoph und Bildungstheoretiker Julian Nida-Rümelin konstatiert eine Dominanz des Kognitiven in der heute gängigen Konzeption von Grundbildung, wie sie in der Pflichtschulzeit erworben werden soll. Leistungen in Fächern wie Deutsch, Englisch und Mathematik sind ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg und damit für den weiteren Bildungs- und/oder Berufsweg. Handwerkliche, künstlerische oder sportliche Kompetenzen sind demgegenüber weniger bedeutsam, mehr noch, diesbezügliche Stärken werden gar nicht mit der sonst üblichen Gründlichkeit erhoben, sondern indirekt erschlossen. Wenn ein Schüler in den kognitiven Fächern versagt, sagt man tröstend: wahrscheinlich ist er praktisch begabt und schickt ihn in eine entsprechende Berufsausbildung.

Fokus auf Defizitbereiche

Diese Vorgehensweise wird weder dem Schüler in seiner Ganzheitlichkeit gerecht noch ist es gut für die Berufswelt, wenn Kompetenzbereiche, die in einem großen Teil der Berufswelt wichtig sind, in der Schule von geringer Bedeutung sind. Man versucht, "schwachen" Schülern zu helfen, indem man eine geeignete Methodik für die Defizitbereiche Sprachen und Mathematik entwickelt, im Notfall gibt es Nachhilfe. Nida-Rümelin meint, es wäre besser und würde den Schülern mehr bringen, wenn jene Kompetenzbereiche, in denen die "schwachen Schüler" vielleicht "stark" sind, in der Schule aufgewertet würden.

Man kann es auch so sagen: Fächer wie Werken, Gesang und Sport sollten zentraler Bestandteil von Allgemeinbildung sein, um der Körper-Geist-Ganzheitlichkeit des Individuums, aber auch der Vielfalt der Kulturen gerecht zu werden. Ich persönlich würde neben dem Gesang im Rahmen von Sport auch dem Tanz eine hohe Bedeutung geben, als ästhetisch-kommunikative Ausformung körperlicher Aktivität, speziell in Österreich ("Volk, begnadet für das Schöne"). Ein Volk der Sänger und Tänzer hat nicht nur gemeinsame Genussbereiche, was dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dient, auch in der Konfliktbearbeitung ergeben sich neue Möglichkeiten, etwa ein Tänzchen vor und nach jeder Verhandlungsrunde.

Praxisorientierung an Unis

Eine ähnliche Schieflage, wie sie Nida-Rümelin in der Grundbildung sieht, sehe ich in der Pädagogenbildung, nämlich mit den Komponenten "Wissenschaftlichkeit" und "Praxisorientierung". Der Gesetzgeber hat 2013 für die "neue" Pädagogenbildung festgelegt, dass beide Komponenten, die letztere mit dem Vokabel "Professionsorientierung" bezeichnet, wesentlich sind, ohne dabei einen Vorrang für die erste oder die zweite anzugeben. Daraus leitet sich die Forderung ab, dass Kooperationen zwischen Universitäten (Domänen der Wissenschaftlichkeit) und Pädagogischen Hochschulen (stark in der Praxisorientierung) auf Augenhöhe stattfinden sollten.

In den informellen Kulturen der Kooperationsverbünde und in der Bewertung von außen hält sich freilich hartnäckig die Auffassung, dass Wissenschaftlichkeit das höhere Gut ist, nicht zuletzt deswegen, weil es dafür etablierte Verfahren der Sichtbarmachung an Personen gibt, wie Promotion und Habilitation. Maßnahmen zur Beseitigung der Schieflage bestehen darin, die Pädagogischen Hochschulen aufzufordern, wissenschaftlicher zu werden, nicht aber darin, die Universitäten praktischer zu machen. Es besteht die Gefahr, dass die Komponente Praxisorientierung verloren geht oder zumindest nicht weiterentwickelt wird.

In vier Schritten zum Meisterpädagogen

Analog zu Nida-Rümelin schlage ich vor, "Professionsorientierung" aufzuwerten statt alles an der Wissenschaftlichkeit zu messen und damit dem heute etablierten Diktat objektivierter Empirie zu unterwerfen. Dazu braucht es eine personelle Repräsentanz hoher praktischer Kompetenz in der Pädagogenbildung. Dafür ist es notwendig, valide Verfahren zur Beurteilung der Qualität pädagogischer Tätigkeit zu entwickeln. Ein erster Schritt könnte sein, hervorragende Praxisleistungen – vergleichbar mit der im Wissenschaftsbereich vielbeschworenen Exzellenz – sichtbar zu machen.

Konkret stelle ich mir die Identifikation von sogenannten Meisterpädagogen so vor: 1. Vorschlag von Schulleitung und Schulaufsicht auf Basis der Beobachtung der pädagogischen Tätigkeit; 2. eine öffentliche Unterrichtsvorführung, bei der eine dem Kandidaten unbekannte Gruppe mit Klassengröße unter Beobachtung durch eine interessierte Öffentlichkeit und durch eine Jury unterrichtet wird (auf einer Theaterbühne oder im Fernsehen); das Sich-Stellen ist auch ein wesentliches Element bei Habilitationen; 3. eine verschriftlichte und veröffentlichte Reflexion der eigenen pädagogischen Tätigkeit, womit sich ein weiterer Berührungspunkt zur Wissenschaft ergibt; 4. ein Gespräch mit der Jury; diese entscheidet nach einer Befragung der Schüler.

Öffentlichkeit für Lehrer

Natürlich gibt es Initiativen zur Auszeichnung von Pädagogen bereits, zum Beispiel den "Teacher's Award" der Industriellenvereinigung oder Auszeichnungen im Rahmen der IMST-Initiative. In der Regel geht es dabei um Projekte mit einiger Distanz zum pädagogischen Alltag. Distanz zum Alltag gibt es auch bei meinem Vorschlag, und zwar in Richtung einer Verschärfung der Bedingungen durch Wegfall eines schützenden Klassenzimmers und der Bekanntschaft mit den Schülern. Es ist eine Prüfungssituation vorgesehen, die die ganze Persönlichkeit herausfordert. Diese Maßnahme sollte auch Lehrertätigkeit öffentlich diskutierbar machen. Überhaupt verfolge ich mit dem Vorschlag das Ziel, Lehrer als gesellschaftlich sichtbare Personen zu positionieren. Kandidatenfreundlichere Modifikationen sind denkbar, allein die Öffentlichkeit halte ich für wesentlich.

Was allerdings tatsächlich gegen den Vorschlag spricht, ist die Erwartung, dass in zunehmendem Ausmaß hervorragende pädagogische Leistungen nur von Teams erbracht werden können. Dies gilt auch in den Wissenschaften, trotzdem halten sich hartnäckig die akademischen Hierarchien von den prekär Beschäftigten bis zu den Professoren. Vermutlich deswegen, weil als Träger von professioneller Energie und Identität hervorragende Individuen unverzichtbar sind. Ebenso als Abweichler vom Mainstream sowie als Kristallisationspunkte für innovative Teams. Die Existenz attraktiver Vorbilder sollte auch positive Auswirkungen auf Motivation und Engagement der Lehrer – vor allem der angehenden – haben. Als Anreiz, sich einem doch recht aufwändigen und riskanten Verfahren zu stellen, sollte es einen Gehaltssprung und erhöhte Karrierechancen für Meisterpädagogen geben. (Roland Fischer, 21.11.2017)