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Wie "weiß" eine Eizelle, was sie zu tun hat? Was entscheidet über Zellteilung und Zelltod? Welche Rolle spielt der Zufall? Fragen, die Edouard Hannezo beschäftigen.

Foto: AP / Oregon Health & Science University

Der Physiker Edouard Hannezo sucht Analogien zwischen Physik und Biologie.

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Wien/Klosterneuburg – Unter all den Naturgesetzen, die Wissenschafter gefunden haben, gibt es eines, das lang unterschätzt wurde. Es lautet: Die Natur ist kreativ. Ordnung kann spontan entstehen – und zwar auf allen Ebenen der Materie, bei Atomen, Molekülen, Zellen, in Tierschwärmen und nicht zuletzt auch in menschlichen Gesellschaften. Überraschenderweise lassen sich die Modelle, die für Ordnungsbildung in der unbelebten Natur entwickelt wurden, auch auf die Biologie übertragen.

Edouard Hannezo beschäftigt sich am Institute of Science and Technology (IST) Austria mit der Entwicklung von Geweben mithilfe der Theorie der Selbstorganisation. Das betrifft sowohl die natürliche Organentstehung wie auch deren Degeneration, also Krebs. Seine jüngsten Forschungsergebnisse wurden im Fachblatt Cell veröffentlicht.

STANDARD: Herr Hannezou, ist es nicht erstaunlich, dass sich ein komplexes Lebewesen wie der Mensch aus einer einzigen Eizelle entwickelt?

Hannezo: Diese Frage hat mich schon als Kind fasziniert. Ich hatte damals eine Art Cartoon, in dem die Entwicklung des menschlichen Körpers gezeigt wurde. Darin war jede einzelne Zelle als kleine Person dargestellt – doch das war unbefriedigend: Denn wenn man die Entwicklung des Menschen durch Zellen erklärt, die selbst einen Willen und ein Gehirn besitzen, dann verschiebt man das Problem im Grunde nur. Die Frage, die mich seitdem interessiert, lautet: Wie funktioniert die Entwicklung, wenn die Zellen zu Beginn alle gleich sind und es keinen übergeordneten "Architekten" gibt? Wie "weiß" jede Zelle, was sie zu tun hat?

STANDARD: Die klassische Antwort lautet: Für die Entwicklung gibt es Instruktionen – und die sind in den Genen festgeschrieben. Doch das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit?

Hannezo: Drücken wir es so aus: Der Masterplan liegt im Genom. Aber es gibt keinen "Aufseher", der den Plan überwacht und anschafft, was zu tun wäre. Alle Zellen des Körpers besitzen das gleiche Erbgut, doch am Ende entwickeln sie sich völlig unterschiedlich. Es muss also eine Ordnung geben, die aus der Kommunikation der Zellen untereinander, also durch Selbstorganisation, entsteht. Ich denke, hier kann die Physik eine Antwort geben.

STANDARD: Selbstorganisation – was ist das eigentlich?

Hannezo: Der Begriff beschreibt die Tatsache, dass einfache Elemente komplexe Phänomene in großem Maßstab erzeugen können. Nehmen wir zum Beispiel eine Schneeflocke: Die einzelnen Wassermoleküle besitzen keine Information darüber, wie man so ein komplexes Gebilde wie eine Schneeflocke baut – ein Gebilde, das milliardenfach größer ist als ein Wassermolekül. Alles, was es dafür braucht, sind die Anziehungskräfte zwischen den Wassermolekülen. Das makroskopische Phänomen lässt sich also durch die Wechselwirkungen auf der Mikroebene erklären. Und das ist auch bei Zellen und Organismen so. Hier besteht eine grundlegende Analogie.

STANDARD: Inwiefern?

Hannezo: Analogie im physikalischen Sinn: Wir verwenden ähnliche mathematische Modelle, um diese Phänomene zu beschreiben. Auf der molekularen Ebene gibt es natürlich wesentliche Unterschiede. Zellen bestehen aus vielen unterschiedlichen Komponenten, sie besitzen Gene und verbrauchen Energie, um ihre Struktur aufrechtzuerhalten.

STANDARD: Kehren wir nochmals zur Ausgangsfrage zurück: Wie finden die Zellen heraus, was sie zu tun haben?

Hannezo: Die klassische Antwort hat der britische Mathematiker Alan Turing vor 60 Jahren gegeben – und die ist auch heute noch aktuell. Seine Idee war: Angenommen, jede Zelle gibt zwei Signalmoleküle A und B ab, die die Entwicklung aller anderen Zellen zum Typ A oder B anstoßen. Wenn nun Molekül A die Herstellung von B verstärkt und B die Herstellung von A hemmt, dann bildet sich ein geschlossener Wirkungskreislauf, der sich von selbst stabilisiert. Diese Wechselwirkung genügt, um räumliche Muster zu erzeugen. So entstehen zum Beispiel die Finger von Wirbeltieren. Man kann diesen Zyklus mit immer neuen Signalmolekülen wiederholen und dadurch fast beliebige Differenzierungen herstellen. Aus theoretischer Perspektive lässt sich die Komplexität von Lebewesen damit sehr einfach erklären.

STANDARD: So weit das Prinzip. Wie viel Prozent all dieser Differenzierungsschritte von der Eizelle bis zum Neugeborenen sind heute schon gut erklärt?

Hannezo: Noch sehr wenige. Es gibt noch zu viele "unbekannte Unbekannte". Daher ist es schwierig, hier einen Prozentsatz anzugeben.

STANDARD: Was kann man mit dieser Art von Modellen in der Praxis machen?

Hannezo: Wir versuchen herauszufinden, wie Krebs entsteht. Wir sehen uns keine einzelnen Krebsgene an, sondern betrachten die Funktionen von Krebszellen quasi als Module – den Stoffwechsel etwa, die Zellteilung und die Bewegung der Zelle. Wir versuchen, die entscheidenden Variablen zu finden, die dafür sorgen, dass die normale Entwicklung gestört wird.

STANDARD: Was läuft bei Krebszellen aus Sicht der Selbstorganisation aus dem Ruder?

Hannezo: Eine überraschende Einsicht, die wir an Hauttumoren gefunden haben, ist: Einzelne Krebszellen folgen in ihrem Verhalten keiner Regel, manchmal teilen und erneuern sie sich, manchmal sterben sie. Mutationen in identischen Zellen können offenbar ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. Das Muster – also die Bildung eines Tumors – entsteht erst, wenn man ganze Zellpopulationen betrachtet.

STANDARD: Was ist der Unterschied zwischen einer mutierten Zelle, die sich teilt, und einer, die abstirbt?

Hannezo: Es besteht kein Unterschied. Ich glaube, dass hier eine grundsätzliche Zufälligkeit wirkt. Unsere Modelle zeigen: Wenn sich das Verhältnis von Zelltod zu Zellteilung nur um einen ganz geringen Betrag verschiebt, dann führt das langfristig zu exponentiellem Wachstum der Krebszellen. Diese Einsicht könnte eine Orientierungshilfe für experimentell arbeitende Wissenschafter sein. Man müsste die Gene finden, die für die Balance zwischen Zelltod und Zellteilung sorgen.

STANDARD: Wenn bei Krebs der Zufall eine so wichtige Rolle spielt – kann man das jemals kontrollieren beziehungsweise verhindern?

Hannezo: Ich glaube schon. Die Lösung ist nur nicht so simpel, wie man das gern hätte. Man kann nicht voraussagen, welche Zelle schließlich zum Wachstums des Tumors führt. Aber wir werden einen Fingerabdruck der Krebsentstehung finden. (Robert Czepel, 24.11.2017)