Gedenken an die Opfer. Am Mittwoch spricht das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag das letzte Urteil seiner Geschichte, ...

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... der Angeklagte ist Ratko Mladić, von 1992 bis 1996 Oberbefehlshaber der Vojska Republike Srpske. Ihm werden zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnien-Kriegs zur Last gelegt. In Žepa brannten Mladićs Soldaten alle Häuser nieder.

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Der aktuelle Ortsvorsteher von Žepa, Cocalić, hatte sich 1995 in der Felsgrotte in Žepa vor den Männern von Ratko Mladić versteckt.

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Eine Landschaft wie am Ende der Welt.

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Taucht man aus dem tiefgrünen Hochwald nach langer Fahrt heraus, leuchtet von weitem unten aus der Schlucht das weiße Minarett. Bevor Žepa am 25. Juli 1995 an die Armee der bosnischen Serben fiel, gelangte noch eine Nachricht durch die Transistorradios. "Du, der weit weg von deinem Heimatland, weit weg von deiner Mutter, deinem Bruder, deinem Vater, deinem Sohn, von deinem geliebten einzigartigen Bosnien-Herzegowina bist", so war über die Funkwellen zu hören, "Bosnien ist eins. Es ist unsere einzige Mutter. Wir, die Leute von Žepa, haben sie für euch bewahrt. Mein größter Wunsch ist, wieder Kinder zurück in der Schule zu sehen. Und wir wollen, dass Jugoslawien seine unzivilisierte Aggression gegen Žepa und Bosnien-Herzegowina beendet. Grüße von den Kämpfern von Žepa, von den Leuten und von ihrem Kommandanten Avdo Palić, bekannt als Palo." Es ist eines der letzten Dokumente aus der Enklave.

Als der Krieg 1992 in Bosnien-Herzegowina begann, gelang es den völkischen Nationalisten unter deren politischem Führer Radovan Karadžić nicht, drei größere muslimische Enklaven in Ostbosnien an der Drina einzunehmen: Srebrenica, Žepa und Goražde. Sie waren zwar unter Dauerbeschuss, doch sie wurden von der lokalen Bevölkerung und der hauptsächlich aus Bosniaken bestehenden Armee der Republik Bosnien und Herzegowina verteidigt. Viele Menschen muslimischen Namens waren aus den Dörfern in die Enklaven geflohen – auch Žepa war völlig überfüllt.

Vor dem Krieg 2.440 Menschen

1993 wurden die Enklaven zu "Schutzzonen" erklärt – die Uno sollte die Zivilbevölkerung vor Angriffen bewahren. Im Fall von Žepa kamen Ukrainer ins Dorf. "Sie spielten eine unselige Rolle", erzählt S. Ramić. "Sie haben uns die Waffen weggenommen, und wir konnten uns nicht mehr verteidigen." Herr Ramić sitzt in seinem überheizten Holzhaus auf einem Schafwollteppich, der auf der Bank liegt. In der Ecke steht seine Angel. "Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr auf die Uhr geschaut", sagt er, um sein Leben nach dem Krieg zu beschreiben. Fischer wie Herr Ramić haben genug gesehen, jetzt wollen sie nur mehr auf die Drina schauen, die ein paar Kilometer weiter als grün-blaues Band die Grenze zwischen Serbien und Bosnien-Herzegowina zwischen die Berge zieht.

Vor dem Krieg lebten hier in Žepa 2.440 Menschen, davon bezeichneten sich 2.315 als Bosniaken und 104 als Serben. Jeden Montag in der Früh stiegen viele in den Bus und fuhren in die nächstgelegene Stadt Han Pijesak oder in anderen bosnische Städte zum Arbeiten. Am Freitagabend kamen sie wieder zurück. Denn in Žepa selbst gab es nur eine kleine Fabrik, in der Arbeitskleidung für Waldarbeiter produziert wurde, ein paar Leute arbeiteten zudem in dem Fischereibetrieb unten an der Drina.

Kaum Rückkehrer

Heute arbeiten nur mehr ein paar Leute in der Fischerei. 80 Prozent der insgesamt offiziell 300 Menschen sind Pensionisten. Anders als im Fall der ehemaligen muslimischen Enklave Srebrenica sind hierher kaum Menschen zurückgekehrt.

Herr Ramić klopft sich mit seiner linken Hand immer wieder ans Ohr und sagt: "Wissen Sie, die Granate explodierte zu nahe bei mir. Jetzt höre ich nicht mehr gut." Während des Krieges kommunizierten die Leute aus Žepa mittels Amateurfunkeinrichtungen nach außen. Herr Ramić hatte erfahren, dass sein Vater in Višegrad ermordet und von der berühmten Brücke in die Drina gestürzt worden war. Damals, zu Beginn des Krieges 1992 und 1993, holten die Leute in Žepa die Leichen, die 20 Kilometer aus Višegrad die Drina heruntergetrieben waren, aus dem Wasser und begruben sie. Manche hatten noch Personalausweise bei sich, und so wusste man, um wen es sich handelte. Nachdem der Vater von Herrn Ramić getötet worden war, verstarb auch seine Mutter. "Ich glaube, aus Trauer", sagt der Sohn.

Ethnische Säuberungen bereits 1992

Žepa ist heute ein Ort, wo die Menschen, mit denen man redet, sich nicht getrauen, ihre Vornamen zu nennen, um nicht erkannt zu werden – so wie Herr Ramić. Denn Žepa befindet sich in dem Landesteil Republika Srpska, einer Region, in der völkisch denkende Nationalisten bereits vor dem Krieg die Abspaltung von Bosnien-Herzegowina betrieben. Die Idee der Kriegstreiber war, dass hier nur mehr Menschen mit orthodoxen Namen leben sollten. Jene mit katholischen oder muslimischen Namen sollten vertrieben oder ermordet werden.

Bereits im Jahr 1992 wurden die Dörfer an der Drina "ethnisch gesäubert", um das Gebiet später an Serbien anschließen zu können. Das gelang zwar nie – doch eigentlich haben die völkischen Nationalisten ihr Ziel nie aufgegeben. Bis heute wollen sie kein gemeinsames Bosnien-Herzegowina, sondern die Trennung entlang der "Religion", die ab dem 19. Jahrhundert als "Nation" interpretiert wurde.

Zerschossene Häuser

In Žepa sind viele wiederaufgebaute Häuser nicht bewohnt – die Rollos sind heruntergelassen. Nur aus wenigen Rauchfängen zieht ein weißer Faden in den Herbsthimmel. Über den rot durchsprenkelten Wäldern steigt der Nebel hoch und gibt das tiefe Tal frei – es scheint, man sei ans Ende der Welt gekommen. Žepa wurde im Krieg von allen Seiten belagert. Die Felsen sind steil, das Wasser des schmalen Flusses ist türkis, selbst die alte osmanische Brücke scheint wie ein Tor ins Jenseits. Viele Häuser sind zerschossen.

Die Moschee des Ortes wurde wiederaufgebaut. Daneben steht ein Denkmal, das an die Menschen erinnert, die Žepa verteidigten und dabei zu Tode kamen. Auf dem Gedenkstein ist vom "leisen Rauschen" der Quelle zu lesen, die hier fließt. Srebrenica, Žepa und Gorazde galten damals als schwer einzunehmen. Die Situation im Dorf war allerdings kaum auszuhalten. 6.000 Leute – die Hälfte davon Flüchtlinge – lebten drei Jahre lang eng aneinandergepfercht. Es gab kaum Essen, keine Medizin, keine Ärzte. Die Hilfskonvois wurden von der Armee der Republika Srpska nicht durchgelassen. Versorgung kam höchstens aus der Luft – wenn Pakete mit Fallschirmen abgeworfen wurden.

Mladić wird als Held verehrt

Herr Cocalić, der Ortsvorsteher war damals ein junger Mann im Ort. "Wir sind im Boot die Drina runtergepaddelt, um Brot und Getreide zu kaufen", erzählt er. "Einige Leute starben hier, weil sie die körperlichen Schmerzen nicht mehr ertrugen, einige starben aus Unterernährung, einige wegen der Kälte", erinnert er sich. Wenn ein Bein amputiert werden musste, habe man die Säge zur Hand genommen. Herr Cocalić möchte ebenfalls seinen Vornamen nicht nennen.

Denn in der Republika Srpska sollte man besser der offiziellen Ideologie entsprechen, will man keine Nachteile haben. Ratko Mladić ist für viele hier weiterhin ein Held, nach dem öffentliche Plätze und Straßen benannt werden sollen. Seine Verbrechen werden geleugnet, relativiert, verharmlost oder umgedreht. Es gibt keine Aufarbeitung – im Gegenteil, die Propaganda geht weiter.

Zwei Wochen nach dem Fall von Srebrenica am 25. Juli 1995 kam die Armee der Republika Srpska nach Žepa, um das Dorf einzunehmen. Es geschah das Gleiche wie zuvor in Srebrenica. Die Frauen, die Alten und die Kinder wurden in Busse gesteckt und weggebracht. Das Territorium war erobert. Die Männer, die nicht in die Busse durften, waren der gleichen Lebensgefahr ausgesetzt wie jene in Srebrenica. Deshalb versuchten manche alt auszusehen, um doch einsteigen zu dürfen. Männliche Muslime galten laut der damaligen Propaganda pauschal als "radikal" und wurden einfach erschossen.

Palić blieb bis zum Schluss

Anders als in Srebrenica, wo die Armee der Republik Bosnien und Herzegowina unter der Führung von Naser Orić die eigenen Leute einfach im Stich ließ und aus der Enklave floh, blieb der Kommandant von Žepa, Avdo Palić, aber bis zum Schluss bei seinen Leuten, um sicherzugehen, dass sie evakuiert wurden. 6.000 bis 7.000 Leute wurden aus dem Dorf gebracht. Dann kamen die Soldaten des bosnisch-serbischen Militärchefs Mladić und brannten alle Häuser nieder – auch die Moschee. Žepa wurde buchstäblich ausgelöscht.

Die 1.100 bis 1.200 Männer, die nicht in die Busse durften, flohen – etwa 800 von ihnen über die Drina nach Serbien, wo sie in den Lagern Šljivovica und Mitrovo Polje landeten. Einige wurden dort gefoltert, manche wurden vom Roten Kreuz ausgeflogen. Die anderen Männer versteckten sich monatelang in den Höhlen und Wäldern in der Nähe von Žepa. Ihnen war versprochen worden, dass die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina sie mit dem Hubschrauber evakuieren würde. Doch niemand kam.

Kein Weg außer Versöhnung

Deshalb versuchten sich einige durch die Wälder in Richtung Sarajevo durchzuschlagen. Manche gerieten in Minenfelder oder wurden von Soldaten aufgegriffen. "Allein aus meiner Familie wurden acht nahe Angehörige getötet", erzählt Ramić. "Wer so was macht, braucht eigentlich kein Gericht mehr", sagt er nüchtern. Und Mladić? "Für uns ist das Urteil gegen Mladiić keine Rache oder keine Genugtuung, höchstens etwas Gerechtigkeit", meint er. Ramić denkt, dass das Urteil zu lebenslängliche Haft die einzig angemessene Strafe ist. "Es gibt aber keinen Weg nach vorne außer die Versöhnung", fügt der 68-Jährige hinzu. "Und die einzige Möglichkeit, die wir haben, um diese Versöhnung zu schaffen, ist die Entwicklung der Wirtschaft."

Sein Nachbar, der Ortsvorsteher Cocalić, war einer der letzten Männer, die das Dorf verließen. Cocalić sieht aber auch die Tatsache, dass die eigene Armeeführung in Sarajevo die Enklaven aufgab, kritisch. "Das war alles ausgemacht, dass wir wegmussten. Bei der Evakuierung kamen ja keine Panzer, sondern Busse."

"Der Onkel hat es geschafft"

Als Cocalić die Felsgrotte in Žepa, in der er sich monatelang versteckt hatte, im November 1995 verließ, war es noch gefährlich, sich durchzuschlagen. Es gab aber einen Akku in der Felshöhle – über diesen wurde per Funk mit den Leuten kommuniziert. Der Codesatz hieß "Der Onkel hat es geschafft" – da wussten die anderen in der Höhle, dass Cocalić in Sicherheit war. Später holte er die anderen 13 Männer und brachte sie hinter die Frontlinie.

Auch er erinnert sich an den Verteidiger des Ortes, Avdo Palić. Palić hatte die Evakuierung mit Mladić verhandelt. Nach ihrem letzten Treffen am 27. Juli wurde er aber nicht mehr gesehen. Erst ein paar Jahre später wurden seine Überreste in einem Massengrab in der Nähe identifiziert. Palićs größter Wunsch, dass wieder Kinder in die Schule in Žepa gehen, ging nicht in Erfüllung. Der Imam des Dorfes, Edin Šljivar, erzählt, dass 1991 hier noch 800 Kinder unterrichtet wurden. "Heute sind es nur mehr zwölf Kinder. Und die Schule wird deshalb bald geschlossen werden." (Adelheid Wölfl aus Žepa, 22.11.2017)