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Die Bundeskanzlerin hat nicht die absolute Mehrheit gewonnen und braucht deshalb Koalitionspartner.

Foto: AP Photo/Markus Schreiber

Fast siebzig Jahre ist die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Wahlrecht gut gefahren. Jeder Partei, die die Fünfprozenthürde überspringt, steht eine proportionale Vertretung im Bundestag zu. Ein Wahlsieger wandte sich dann an eine kleinere Partei als Mehrheitsbeschafferin; die Koalitionen waren stabil.

Seit 2013 ist Sand im demokratischen Getriebe. Angela Merkel gewann zwar die Wahl, aber nicht die Absolute, und ein Partner aus dem Mitte-rechts-Spektrum stand nicht mehr zur Verfügung. Die große Koalition mit der SPD funktionierte zwar gut, hatte aber bei der heurigen Wahl die gleiche Wirkung wie in den Jahren zuvor in Österreich: Die Volksparteien verloren stark, der rechte Rand legte zu. Und plötzlich kann keine tragfähige Koalition mehr gebildet werden – weder Jamaika noch eine große.

Die Schuld daran Merkel, FDP-Chef Christian Lindner oder SPD-Chef Martin Schulz, der partout nicht mehr kleiner Koalitionspartner sein will, zuzuschieben, greift zu kurz. In einem fragmentierten Parlament mit extremen Parteien, die weder koalitionsfähig noch -willig sind, fehlt es oft an stabilen Regierungsoptionen. Große Koalitionen zwischen Volksparteien lassen Wähler frustriert zurück und stärken die politischen Ränder. Bündnisse mehrerer Fraktionen mit höchst unterschiedlichen Kulturen sind grundsätzlich instabil; die Chancen, dass eine Jamaika-Koalition vier Jahre lang gehalten hätte, waren nie sehr groß. Und Minderheitsregierungen funktionieren nur dort, wo eine Partei zur parlamentarischen Unterstützung bereit ist, ohne selbst mitzuregieren.

In Österreich wird nun die vierte Option probiert: Die rechte, in Teilen sogar rechtsextreme Protestpartei soll mitregieren. Das kann den Zulauf der Wähler, zu dem ihr die Jahre der großen Koalition verholfen haben, bremsen, gibt aber auch einigen Grund zur Sorge. Und wirklich nachhaltig – das hat die Schüssel-Ära gezeigt – sind solche Konstellationen auch nicht.

Systemwechsel birgt Gefahren

In einer solchen Situation würde ein Mehrheitswahlrecht helfen. In Frankreich kann Emmanuel Macrons Partei LRM allein regieren, obwohl sie im ersten Wahlgang weniger als 30 Prozent erhielt; in Großbritannien hat das im Normalfall auch gereicht. Es wäre nicht so schlecht, wenn auch Merkels Union allein regieren könnte. Und seit Jahren gibt es in Österreich regelmäßig Rufe nach einem Mehrheitswahlrecht.

Ein Blick in den Osten zeigt, dass ein solcher Systemwechsel Gefahren birgt. In Ungarn erreichte Viktor Orbáns Fidesz 2014 mit 45 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit, in Polen die PiS 2015 mit 38 Prozent eine klare absolute Mehrheit. In beiden Ländern hat damit eine Minderheit eine Dominanz erzielt, die den Rechtsstaat gefährdet. Auch in Italien ist die von Matteo Renzi angestrebte Wahlrechtsreform auch an der Sorge gescheitert, dass ein Bonus für die jeweils größte Partei Beppo Grillos Fünf-Sterne-Bewegung an die Macht bringen könnte – so wie das Persönlichkeitswahlrecht in den USA Donald Trump zum Präsidenten gemacht hat.

Dennoch ist jetzt die Zeit gekommen, über ein Mehrheitswahlrecht oder zumindest eine mehrheitsfördernde Reform nachzudenken – am besten verbunden mit einer Stärkung von Verfassungsgarantien. Die Fragmentierung der Parteienlandschaft wird weitergehen und von Bildern wie denen vom Jamaika-Desaster nur noch beschleunigt werden. Und Unregierbarkeit – das wissen die Deutschen nur zu gut – ist die gefährlichste Option. (Eric Frey, 21.11.2017)