Thorsten Schäfer-Gümbel will keine österreichischen Verhältnisse.

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Berlin – Die deutsche SPD-Spitze rückt nach dem Platzen der Jamaika-Sondierungen von Neuwahlen ab und bringt eine Unterstützung einer Unions-geführten Minderheitsregierung ins Spiel. CDU und CSU wollen diesen Weg bisher aber nicht gehen, weil Deutschland stabile Verhältnisse brauche. "Neuwahlen wären ein Armutszeugnis" , sagte der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner am Mittwoch der dpa in Berlin.

Zu Wochenbeginn hatte die SPD-Spitze nach dem Jamaika-Aus auf Vorschlag von Parteichef Martin Schulz einstimmig folgenden Beschluss gefasst: "Wir halten es für wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger die Lage neu bewerten können. Wir scheuen Neuwahlen unverändert nicht." An diesem Donnerstag wird Schulz zum Gespräch beim deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier erwartet.

Auch ein weiterer der fünf Vizechefs der SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, bringt als Alternative zu einer großen Koalition eine Minderheitsregierung ins Gespräch. Er begründet seine Ablehnung einer großen Koalition mit dem abschreckenden Beispiel Österreichs. "Wir wollen keine österreichischen Verhältnisse", sagte Schäfer-Gümbel am Mittwoch dem ZDF.

Dort hätten die ständigen schwarz-roten Bündnisse zu einer Stärkung der politischen Ränder geführt. Zudem sei die Union in den letzten Monaten der großen Koalition vertragsbrüchig geworden. Auch aus inhaltlichen Gründen sehe die SPD "momentan keine Basis" für eine große Koalition. Deshalb müsse man nach anderen Optionen suchen, sagte er und verwies auf Artikel 63 des Grundgesetzes.

0,0 Bewegung

Dieser ermöglicht Neuwahlen, aber auch eine Minderheitsregierung. Damit habe man in Hessen gute Erfahrungen gemacht in der Zeit der geschäftsführenden Landesregierung mit wechselnden Mehrheiten. "Wir haben andere Schwerpunkte für die Zukunft dieses Landes, und da sehen wir bei der Union momentan 0,0 Bewegung", begründete Schäfer-Gümbel die Ablehnung einer großen Koalition. Der Union gehe es allein um Machterhalt.

Der deutsche Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier lotet derzeit Möglichkeiten aus, die Krise bei der Regierungsbildung nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche zu überwinden. Mehrere SPD-Politiker wie der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, haben Schulz aufgefordert, offen in das Gespräch mit Steinmeier zu gehen und das kategorische Nein zu einer neuen großen Koalition aufzugeben. CSU-Chef Horst Seehofer ist bereits am Mittwoch ins Schloss Bellevue geladen.

In der SPD rumort es

Zugleich wächst jedoch auch die Gruppe der SPD-Politiker, die fordern, dass die Partei ihr kategorisches Nein zu einer großen Koalition aufgibt. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen stehe die SPD vor einer neuen Situation, schrieb die Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt auf Facebook. "Die SPD darf sich deshalb Gesprächen nicht verschließen. Ob dann Neuwahlen unvermeidbar sind, kann erst am Ende dieser Gespräche entschieden werden und nicht am Anfang."

Die SPD hatte bei der Bundestagswahl im September nach vier Jahren großer Koalition ihr schlechtestes Ergebnis eingefahren und danach erklärt, für ein solches Bündnis nicht mehr zur Verfügung zu stehen.

Grüne Roth kritisiert Bundespräsidenten

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth appellierte dennoch an die SPD, ihre Absage an eine große Koalition zu überdenken. Die Chancen einer Minderheitsregierung beurteilte sie skeptisch. "Eine Minderheitsregierung wäre eine Möglichkeit, aber wir sind nicht in Skandinavien, haben diese Tradition nicht", sagte sie dem Bayerischen Rundfunk. Vor allem in Dänemark sind Regierungen ohne eigene Mehrheit sehr häufig.

Der Grünen-Europa-Abgeordnete Sven Giegold kritisierte Bundespräsident Steinmeier für sein Vorgehen. "Ich würde mir einen Bundespräsidenten wünschen, der deutlich härtere Worte wählt und den Parteien nicht signalisiert: Wenn Ihr Neuwahlen wollt, dann kriegt Ihr auch Neuwahlen", sagte er der "Berliner Zeitung". Steinmeier lehnt rasche Neuwahlen ab und hat die Parteien stattdessen an ihre Verantwortung zur Regierungsbildung erinnert. Am Dienstag traf sich das Staatsoberhaupt bereits mit den Parteichefs von Grünen und FDP.

Steinmeier trifft alle Fraktionsvorsitzenden

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will nach dem Jamaika-Aus in der kommenden Woche auch mit den Vorsitzenden aller deutscher Bundestagsfraktionen Gespräche führen. Es wolle sich dabei "einen Gesamtüberblick von der politischen und parlamentarischen Lage" verschaffen, kündigte seine Sprecherin am Mittwoch an.

Ziel seiner Gespräche sei es, alle Möglichkeiten einer Regierungsbildung auszuloten. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel hatte am Mittwochmorgen – vor der öffentlichen Ankündigung von Gesprächen mit den Vorsitzenden aller Bundestagsfraktionen – dem Bundespräsidenten ein "undemokratisches Ausgrenzen" ihrer Partei vorgeworfen.

Ihre Fraktion erwarte "im Namen der Wähler einen Gesprächstermin". Dazu dürfte es nun kommende Woche kommen. Steinmeier will die Lage zudem mit den Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht sowie Verfassungsrechtsexperten erörtern. (APA, Reuters, 22.11.2017)