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Eine Frau reagiert am Grab ihrer Verwandten in der Gedenkstätte von Potočari bei Srebrenica auf die Nachricht vom Urteil gegen Ratko Mladić.

Foto: Reuters/Ruvic

Der 1975 geborene Emir Suljagić ist aufgrund der ethnischen Säuberungen im Drina-Tal in die Enklave Srebrenica geflohen. Weil er rasch Englisch lernte, konnte er dort für die Uno als Übersetzer arbeiten. Das rettete ihm schließlich auch 1995 das Leben. Suljagić, heute Politiker für die "Zivile Allianz", hat ein Buch über die Zeit in Srebrenica geschrieben: "Postkarten aus dem Grab".

STANDARD: Wann haben Sie das erste Mal von Ratko Mladić gehört?

Suljagić: Das erste Mal, dass ich realisiert habe, wer der ist, war im Mai 1992. Ich stand damals mit meiner Familie und meinen Nachbarn auf einem Hügel und habe hinuntergeschaut ins Tal und ein paar Dutzend muslimische Dörfer brennen sehen. Das war ein Resultat der Taten von Mladićs Truppen. Seine Taten am ersten Tag, als er das Kommando über die bosnisch-serbische Armee (VRS) bekam, haben bereits gezeigt, was er in der Zukunft tun wird.

STANDARD: Es war also schon damals, bereits im Jahr 1992, klar, dass es sein Ziel war, die Dörfer von Nichtserben und die Menschen mit muslimischen Namen zu vernichten?

Suljagić: Wenn man im Krieg ist, beschäftigt man sich nicht täglich mit solchen Dingen. Denn wenn man im Krieg ist, versucht man einfach zu überleben. Offensichtlich war er tief gestört, es gab keinen Zweifel darüber, wer Herr Mladić ist.

STANDARD: Was bedeutet das Urteil für Sie?

Suljagić: Das Problem ist: Das Leben wartet auf niemanden. Unser Leben war auch nach dem Krieg hart. Und für viele von uns hat der Krieg nie geendet. Es gibt Leute, die entwurzelt sind, und Menschen, die noch immer in Flüchtlingslagern leben, das alles aufgrund der Taten von Mladić. Ganze Gemeinschaften haben aufgehört zu existieren. Was also bedeutet dieses Urteil für mich? Ich habe keine Ahnung! Es gibt ein größeres Bild, das um so vieles wichtiger ist. Und dieses große Bild sollte erinnert werden. Unsere persönlichen Wahrheiten sind angesichts der gesamten Historie irrelevant. Es ist schon wichtig, dass man über die eigenen Geschichten redet, aber aus historischer Sicht sind die Beweise längst da – und wir müssen das Fazit daraus ziehen.

STANDARD: In Bosnien-Herzegowina gibt es ja noch immer politische Eliten, abgesehen von vielen Bürgern, die Mladić zum Helden machen. Was bringt also so ein Urteil, wenn keine politischen Konsequenzen daraus gezogen werden?

Suljagić: Serbien und die Republika Srpska (Landesteil von Bosnien-Herzegowina, Anm.) führen eine aktive Politik der Leugnung des Völkermordes in Bosnien-Herzegowina. Das ist keine Arroganz. Sie haben sich geschworen, systematisch eine Kampagne durchzuführen, die zum Ziel hat, Lügen darüber zu verbreiten, was zwischen 1992 und 1995 in Bosnien-Herzegowina geschah. Mittelfristig und langfristig ist so eine Politik nicht haltbar, denn die Realitäten finden immer einen Weg, dich zu konfrontieren, auch wenn du versuchst, das zu vermeiden. Auf der anderen Seite ist es mir egal, was Leute mit so einem schwachen moralischen Kompass darüber sagen oder nicht sagen, was in Bosnien-Herzegowina zwischen 1992 und 1995 passiert ist. Wen interessiert das? Die werden immer eine Randerscheinung sein.

STANDARD: Ist das aber nicht für viele Leute sehr demütigend?

Suljagić: Das ist nicht nur demütigend, das ist tief beleidigend. Wie kann man eine gemeinsame Zukunft bauen, wenn man so beleidigt wird? Das ist eine legitime Frage. Wie können wir aufgefordert werden, so eine widerliche Politik zu akzeptieren, die leider vom europäischen Teil der internationalen Gemeinschaft weitgehend toleriert wird? Auf der anderen Seite geht es um eine größere Reflexion. Was haben wir gelernt? Was passiert gerade in Myanmar? Da wird eine andere Bevölkerung getötet, und die werden getötet, weil sie Muslime sind. Die Frage, die ich stellen muss, ist: Wird Europa sagen "Nie mehr wieder"?

STANDARD: In West- und in Osteuropa gibt es zunehmend Ressentiments und pauschale Vorurteile gegen Muslime. Und das nimmt rasant zu. Was denken Sie darüber?

Suljagić: Ich erkenne das vollumfänglich. Es ist traurig zu sehen, dass Leute wie der österreichische Außenminister und künftige Kanzler zu diesen Meinungen beitragen.

STANDARD: Es ist interessant, dass dabei so wenige darüber nachdenken, wozu diese Ressentiments und diese Propaganda gegen Muslime in Bosnien-Herzegowina geführt haben ...

Suljagić: Ja. Offensichtlich gibt es einen Übertragungseffekt, ein Überschwappen von Gedankengut, das es hier in den 1990ern gab.

STANDARD: Das Haager Tribunal hat die Verbrechen in Bosnien-Herzegowina seit mehr als zwanzig Jahren aufgearbeitet. Auf der anderen Seite gibt es wenig gesellschaftliche und politische Aufarbeitung. Wie sehen Sie die Rolle des Haager Jugoslawien-Tribunals?

Suljagić: Das Haager Tribunal hat mit großen Hoffnungen und Erwartungen begonnen. Es hatte ein sehr ehrgeiziges Mandat. Aber das Tribunal konnte den Schwankungen des politischen Willens hinter ihm nicht entkommen. Der politische Wille ist immer weniger geworden. Das hat sich auf die Möglichkeit des Tribunals ausgewirkt, seine ursprüngliche Rolle auszuführen. Aber wenn es auch nur das einzige Erbe des Tribunals wäre, dass Beweismaterial und Faktenmaterial gesammelt wurde, so würde ich das akzeptieren. Denn nun wissen wir, was geschehen ist.

STANDARD: Und auf diese Fakten kann man als Angehöriger der Opfer zumindest verweisen?

Suljagić: Es werden hoffentlich nächste Generationen geboren, die einen zweiten Blick auf diese Fakten werfen. Dank des Tribunals können wir jetzt zumindest Geschichte schreiben, die Geschichte darüber, was in den 1990er-Jahren geschehen ist. Wir haben die Akten. Und es kommt jetzt auf uns an, was wir daraus machen. (Adelheid Wölfl, 22.11.2017)