Wien – Dass zwischen Vorstellung und Wirklichkeit gelegentlich breite Lücken klaffen, zeigt das Verfahren um die Einweisung von Manuel M. vor einem Schöffensenat unter Vorsitz von Eva Brandstetter in zweierlei Hinsicht. Einerseits in der Person des 38-Jährigen, der an paranoider Schizophrenie leidet und dem im September Stimmen befahlen, Kleinkinder ihren Begleitpersonen wegzunehmen. Und andererseits in der beruflichen Erfahrung der Vorsitzenden, die überzeugt ist, dass die Versprechungen von Therapieeinrichtungen nicht immer halten.

Der unbescholtene M. hat mit 15 Jahren begonnen, illegale Rauschmittel zu konsumieren, erzählt er. Ab 22 waren es die sogenannten harten Drogen, vier Jahre später brach die psychische Erkrankung aus. Seit damals hört er immer wieder Stimmen, erzählt er. In den vergangenen zwölf Jahren war er mehr als 20-mal stationär untergebracht, nach den Entlassungen setzte er die Medikamente ab und konsumierte wieder Drogen.

Angst vor Alzheimer durch Medikamente

"Ich habe einmal gehört, dass man von den Medikamenten Alzheimer bekommt. Und man wird schusselig", begründet er die eigenmächtige Absetzung. Auch im Sommer vertraute er stattdessen auf Alkohol und Cannabis, am 6. September führte er dann am Bahnhof Floridsdorf einen Auftrag der Stimmen aus. "Ich habe geglaubt, dass das Kind entführt worden ist", erklärt er, warum er zu einer Frau mit einem vier- bis fünfjährigen Kind ging und dieses wegziehen wollte.

Da die Frau schrie, ging er wieder. Nicht so am nächsten Tag am Bahnhof Handelskai. "Die Stimmen haben mir gesagt, dass es dem Kind nicht gut geht und dass ich es zur Polizeistreife bringen muss", sagt der Betroffene. Es ging um eine Zweijährige in einem Buggy. M. nahm das Gefährt am Griff und wollte es wegziehen, die überraschte Großmutter schrie, Passanten verständigten die Polizei.

Diesmal wartete M. ruhig und ließ sich mitnehmen. "Hat das Kind ausgesehen, als ob es ihm schlecht gehen würde?", interessiert Brandstetter. "Ein bissl habe ich schon den Verdacht gehabt." – "Wieso?" – "Ich weiß nicht. Der Gesichtsausdruck."

Unzuverlässigkeit als Risiko

Der psychiatrische Sachverständige Karl Dantendorfer sagt, dass M. derzeit medikamentös gut eingestellt sei und keine Drogen nehme. "Heute ist er sicherlich nicht gefährlich", ist der Mediziner überzeugt. Aber: Die Unzuverlässigkeit des Betroffenen sei das Risiko.

"Wenn er engmaschig betreut wird, die Drogenkarenz aufrecht bleibt, er seine Medikamente nimmt und einen strukturierten Tagesablauf hat", sei die Gefahr, dass wieder etwas passiere, gering. Treffe einer der Faktoren nicht zu, komme es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder zu einem Vorfall

Verteidigerin Nora Huemer-Stolzenburg, die für eine bedingte Einweisung plädiert, legt die Bestätigung einer Wiener Einrichtung vor, dass ihr Mandant in ein betreutes Wohnprojekt übernommen werden könne. Aus Platzgründen aber erst ab Jänner 2018.

Therapieeinrichtung nahe Drogenumschlagplatz

Die Vorsitzende goutiert das Angebot nicht und plaudert aus dem beruflichen Nähkästchen. "Aus Erfahrung weiß ich, dass es in dieser Einrichtung sehr wohl gelingt, Drogen hineinzubringen, und das länger nicht auffällt. 24-Stunden-Betreuung gibt es dort sicher nicht." Außerdem sei der Standort in der Nähe eines bekannten Drogenumschlagplatzes. "Super Idee, das dort zu machen", merkt Brandstetter ironisch an.

Die Abstinenz sei aber von entscheidender Bedeutung, wie Dantendorfer erklärt. Denn bei Drogenkonsum könnten selbst dann Halluzinationen auftreten, wenn der Patient seine Medikamente regelmäßig nimmt. Das Problem: Werde M. nur bedingt eingewiesen und erhalte Abstinenzweisungen vom Gericht, würde ein etwaiger Fehltritt aufgrund der vorgesehenen bürokratischen Abläufe erst Monate später zu Konsequenzen führen.

Es gebe aber eine anders Option: eine unbedingte Einweisung und eine "Unterbrechung der Unterbringung", sobald M. stabil genug und ein geeigneter Platz gefunden worden sei. Eine Option, die der Senat nicht rechtskräftig zieht. "Ich bin überzeugt, dass Sie bald draußen sind", macht Brandstetter M. Mut. "Aber der optimale soziale Empfangsraum für Sie ist noch nicht gefunden. Möchten Sie vielleicht lieber aufs Land?", bietet sie an. Der Betroffene verspricht, sich zu informieren. (Michael Möseneder, 23.11.2017)