Wie eine Faust: Zwei Meter hoch rollte die Schlammlawine durch Mandra hinunter zum Saronischen Golf und riss Autos mit sich.

Bernath

Es riecht nach kalter frischer Erde, nach Mauern, die feucht sind. Auf dem braunroten Schlamm, der von den Straßen nicht verschwinden will, rutscht ein Motorradfahrer aus. Die Maschine heult kurz auf, dann ist es wieder still. Anwohner eilen herbei, um zu helfen. Jeder trägt Gummistiefel. Auf dem Kirchplatz füllen sie derweil den Tisch auf, von dem aus jeden Tag Wasser, Milch und Orangen verteilt werden.

Vor der Kirche steht ein Leichenwagen. Die Trauerfeier hat noch nicht begonnen. 21 Tote sind seit der Flutkatastrophe vor einer Woche gefunden worden. Niemand in Mandra glaubt aber, dass dies die endgültige Zahl ist.

Bei Stathis Ragousis, dem Generalsekretär der Stadtverwaltung, läuft im Moment der Großteil dieser Tragödie zusammen. Ragousis ist übermüdet, saugt abwechselnd an seiner elektronischen Zigarette und steckt sich einen Stöpsel ins Ohr, um einen Telefonanruf anzunehmen.

Inspektionen dauern an

Mehr als 1000 Häuser, 85 Prozent der ärmlichen Kleinstadt westlich von Athen, sind beschädigt. Die knapp 20.000 Einwohner haben kein Trinkwasser, die Zentralheizung ist ausgefallen. Karten von Mandras Stadtteilen liegen auf Ragousis' Schreibtisch. Immer noch werden Häuser auf ihre Stabilität untersucht.

Video des griechischen TV-Senders Kontra Channel von der Flutkatastrophe in Mandra vor etwa einer Woche.
Kontra Channel Hellas

Die Flut begann morgens um halb sieben, erzählt Ragousis. Das war das Glück. "Die Schulen waren noch geschlossen und die Kinder noch nicht auf der Straße. Andernfalls hätten wir Hunderte von Opfern gehabt." Und, nein: Ein besseres System zur Wasserableitung wäre mit diesen Massen auch nicht fertiggeworden. Zehn Prozent allenfalls hätte es schlucken können. "Das ist meine Meinung."

Stadtchef Stathis Ragousis: Keine Drainage hätte gereicht.
Bernath

Symbol von Profitgier

Allerdings nicht die von Geologen und Architekten, die sich nun zu Wort melden. Nikos Belavilas, Professor an der Technischen Universität von Athen, hat diese Woche einen Bebauungsplan aus dem Jahr 2003 präsentiert. Damals, im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2004, beschloss der Stadtrat in Mandra eine massive Ausweitung der Industriezone, näher zum Fuß des Berges Pateras, unter dem die Kleinstadt liegt. Zwei – meist trockene – Flussbetten wurden dabei abgeschnitten und teilweise zubetoniert. Das Umweltministerium stimmte zu. Es waren die Boomjahre in Griechenland. Die Stadt bekam neue Jobs. Jeder in Mandra, der wollte, wusste von dieser Bauänderung. Heute wird die Schlammstadt, eine halbe Stunde Fahrtzeit von Athen entfernt, zum Symbol von Profitgier und Staatsversagen.

Pepas Prokopis war schon in seinem Café und stellte die Geräte für den Tag an, da hörte er den Warnruf. Es war 6.50 Uhr, als die Lawine von Schlamm und Wasser aus einer Straße schoss und über den Platz vor dem Café Adonis hinweg. Zwei Meter war sie hoch. Wie eine Faust ging sie durch Läden und Restaurants, überflutete Keller und Erdgeschoße der Häuser und riss alles mit sich auf ihrem kilometerlangen Weg hinunter zum Meer.

Pepas Prokopis vor seinem ramponierten Café Adonis.
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Fünf Stunden dauerte es, bis ein Uhr Mittag, dann war das Wasser weg. In der Stadt selbst hatte es in jener Nacht zum Mittwoch des 15. November nicht einmal geregnet. Doch oben, auf dem Plateau des gerade einmal 1000 Meter hohen Pateras, spielte sich ein meteorologisches Jahrhundertereignis ab. 100 Millimeter Regen fielen in knapp drei Stunden – 100 Liter Wasser auf einem Quadratmeter Boden. Die österreichische Unwetterzentrale spricht von "Starkregen" ab 17 Millimeter Niederschlag in einer Stunde.

300 Risikozonen

Dennoch erklären griechische Fachleute nun: Ob es in Mandra zu einer solchen Katastrophe kommen würde, war nicht die Frage – nur wann es passiert, war noch offen. 300 solcher extrem gefährdeter Zonen hat der auf Katastrophenschutz spezialisierte Geologe Efthimios Lekkas in ganz Griechenland ausgemacht. Ein Großteil davon liegt in der Region Attika, rund um Athen, wo die Hälfte der zehn Millionen Griechen wohnt. Dort wurden nicht nur Flussbetten zugebaut – mit oder ohne Genehmigung. Waldbrände, gezielt gelegt, um Bauland für Villen und Restaurants zu schaffen, taten ein Übriges. Auch auf dem Paternas-Berg – dem "Vater"-Berg – hat es immer wieder gebrannt. Nun sind die Böden erodiert.

Georgia Kriezouli und ihr Mann im Hintergrund. Sie sind wie alle anderen in Mandra nicht versichert.
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In Mandra hat keiner eine Versicherung, die nach der Flut Kühlschrank, Auto oder ein ganzes Kaffeehaus ersetzen würde. Im Rathaus kann man Soforthilfe beantragen. Sie beträgt 586,94 Euro. (Markus Bernath aus Mandra, 24.11.2017)